Schüsse aus nächster Nähe, auch auf Personen, von denen keine Gewalt ausging – das ist der schwerste Vorwurf, der nach der eskalierten Demonstration in Bern im Raum steht. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Schweiz, die mit eigenen Beobachtern vor Ort waren, untersuchen den Einsatz und sind beunruhigt. Sie dokumentieren Fälle, bei denen unbeteiligte Passantinnen in die Schusslinie der Einsatzkräfte geraten sein sollen.

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Rund zwei Stunden nach Demo-Start kam es am Samstag nahe des Berner Bahnhofs zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrantinnen und der Polizei. Viele Anwesende wurden durch den Einsatz von Wasserwerfern und Gummischrot verletzt. «Darunter auch viele unbeteiligte Passantinnen und Passanten», sagt Lena Portmann, Co-Geschäftsleiterin der Demokratischen Jurist*innen Bern (DJB). Sie war von Beginn bis zur Auflösung der Demonstration mit einem fünfköpfigen Beobachtungsteam vor Ort. Ihre Rolle: Die Beobachtung der Wahrung der Grundrechte der Demonstranten durch die Polizei.

Auch im Gesicht getroffen

«Mehrere Personen – auch Unbeteiligte – sind durch Gummigeschosse oder andere Zwangsmittel der Polizei getroffen und verletzt worden. Dies auch am Kopf und im Gesicht», sagt Portmann. Ihr Bericht deckt sich mit Beobachtungen von Amnesty International Schweiz: Alicia Giraudel musste ihr Team nach den ersten Zusammenstössen vom Ort des Geschehens abziehen. Die Gefahr, selbst getroffen zu werden, war zu gross. Ihre Teammitglieder beobachteten aber, wie eine ältere unbeteiligte Passantin um die 70 Jahre beim Verlassen des Bahnhofs am Bein von einem Gummigeschoss getroffen wurde.

Police stops protesters during an unauthorized rally in solidarity with the Palestinian people in Bern, Switzerland, 11 October 2025. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
SCHWEIZ DEMONSTRATION SOLIDARITAET PALAESTINA

Bei der Palästina-Demonstration am Samstag in Bern hat die Polizei 536 Personen festgenommen.

Quelle: Keystone

Eine Demonstrantin stand während der Demonstration zeitweise nahe an den Einsatzkräften und wurde durch ein Gummigeschoss am Kopf getroffen, wie sie gegenüber dem Beobachter sagt. Sie erlitt eine Platzwunde und musste ins Spital. Sie kann sich nicht erinnern, dass die Polizei den Einsatz von Gummigeschossen angekündigt hatte. Zudem seien auch die unabhängigen Sanitäter von der Polizei mit Wasserwerfern und Gummigeschossen zurückgedrängt worden, was die Versorgung der Verletzten erschwert habe. 

Gescheiterte Dialogversuche der Polizei

Amnesty erwähnt die gescheiterten Dialogversuche der Polizei. «Die Richtungsangaben zum Verlassen der Demonstration waren nicht klar, es wurden verschiedene Angaben gemacht. Der Zug lief dann in Richtung Schauplatzgasse – wo es zur Einkesselung und zum Einsatz von Zwangsmitteln kam», so Alicia Giraudel. 

«Wir alle haben unser Bestes gegeben.»

Kantonspolizei Bern

Die Kantonspolizei Bern betont: «Wir alle haben unser Bestes gegeben, um weitere grössere Krawalle, Verletzungen und Sachschäden abzuwenden, die Gewalt einzudämmen und Schlimmeres zu verhindern.» Die Kundgebungsteilnehmenden seien mehrfach über verschiedenste Kanäle aufgefordert worden, die Örtlichkeit zu meiden und sich zu entfernen.

«Beim Einsatz von Zwangsmitteln gibt es klare Vorgaben», schreibt die Kantonspolizei weiter. Der Einsatz richte sich nach der Verhältnismässigkeit. Es müsse jederzeit situationsbedingt jenes Zwangsmittel eingesetzt werden, welches das kleinste Verletzungspotenzial erwarten lasse. 

DJB zweifelt Verhältnismässigkeit des Mitteleinsatzes an

«Die Verhältnismässigkeit ist wichtig, weil sie als Voraussetzung dafür gilt, dass Menschen- und Grundrechte – vorliegend die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Bewegungsfreiheit – eingeschränkt werden können», bestätigt die Demo-Beobachterin der DJB, Lena Portmann.

Aber: Vorliegend sei höchst fraglich, ob die Polizei jeweils die mildesten verfügbaren Mittel eingesetzt habe. Dies gelte namentlich angesichts dessen, dass die Einsatzkräfte teilweise die viel invasiveren Gummigeschosse vor dem Wasserwerfer eingesetzt hätten. Auch dass Wasserwerfer quer über den ganzen Bahnhofplatz angewendet wurden und unabhängige Beobachterinnen sowie Demonstranten traf – die offensichtlich nicht vermummt waren, kritisiert die Juristin.

«Demonstration vom Samstag war nicht illegal»

Die Stadt Bern hatte im Vorfeld von einer Teilnahme an der unbewilligten Demonstration abgeraten. Alicia Giraudel von Amnesty stört sich am Narrativ der Behörden, unbewilligte Demonstration per se zu kriminalisieren. «Unbewilligte friedliche Demonstrationen sind nicht illegal, sie sind von der Versammlungs- und Meinungsfreiheit geschützt», sagt sie. Friedliche Teilnehmende einer Demonstration sind laut Völkerrecht zu schützen, auch wenn sich ein Teil der Demonstrierenden gewalttätig verhält: «Aufgabe der Polizei wäre hier, diesen Teil zu isolieren, damit der Rest der Kundgebung friedlich verlaufen kann.»

Anmerkung: Der Beobachter hat die Kantonspolizei mit weiteren konkreten Fragen – wie zum Beispiel zur Art der Aufarbeitung oder zu konkreten Zahlen zum Dispositiv vor Ort – konfrontiert und erhielt darauf keine Antwort.

Quellen
  • Amnesty Schweiz: Gespräch mit Menschenrechtsexpertin Alicia Giraudel
  • Demokratischen Jurist*innen Bern (DJB): Gespräch mit Co-Geschäftsleiterin Lena Portmann
  • Demoteilnehmerin: Zeugenaussage
  • Kantonspolizei Bern: Stellungnahme