Wie viel Gleichzeitigkeit passt in eine Stadt? Auf einer Wiese im Kleinbasel stehen Mitte Mai plötzlich riesige Buchstaben aus Holz. «Diverse Universe», steht da. Vielfältiges Universum – das passt. Der grösste Musik-Event der Welt ist da und macht Basel für eine Woche zum Herz einer Galaxie mit schillernden Monden. 

Trachtengruppe trifft auf Extremely Gay Fetish Club 

Ein Mann, zirka 70, dreht mit lachenden Augen an seiner Handorgel. Er trägt ein Sennenhemd und repräsentiert die Schweiz. Und während er da so dreht und orgelt, donnern aus einer fahrenden Musikbox harte, dunkle Techno-Salven in die Basler Innenstadt. 

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Da stolziert eine Dragqueen vorbei. Über dem muskulösen Oberkörper spannt sich ein Kleid aus Glitzerpailletten. Ein schwules Paar aus Island macht ein Foto. Einige Meter weiter singt ein Strassenmusiker laut über Jesus Christus, der für uns am Kreuz gelitten habe, das solle man bitte nicht vergessen. 

So geht das in einem fort. In der Umlaufbahn dieser Eurovisions-Woche treffen in den Basler Gassen die unterschiedlichsten Lebensrealitäten aufeinander. 

Frau Schieber von der Markgräfler Trachtengruppe hatte zum Beispiel auf ihrem Lebensweg bislang nicht so viel Berührungspunkte mit dem Extremely Gay Fetish Club aus Sydney. «Die hiessen wirklich so», beteuert Frau Schieber und erzählt von der Begegnung, die sie eben hatte. «Der junge Mann aus Sydney, mit dem ich sprach, war so nett. Ich habe selten so viele Komplimente für meine Tracht bekommen.» 

Eine junge Frau aus Spanien erklärt ihrem Kollegen die lokale Basler Tradition, während auf der Eröffnungsparade eine Basler Fasnachtsclique vorbeipfeift. «Dieses Instrument heisst Piccolo. Und dieses Kostüm da, das ist muy típica, se llama Blätzlibajass.» Der Kollege nickt interessiert. 

Da fährt die israelische Delegation vorbei. Die beiden Spanier halten ihre Flaggen in die Höhe und skandieren Parolen für die Freiheit Palästinas. 

Später ist im Internet ein Video von der Parade zu sehen. Ein Mann fährt sich darin in Richtung der israelischen Sängerin und Überlebenden des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023, Yuval Raphael, mit dem Finger über die Kehle. Israel erstattete Strafanzeige gegen unbekannt. 

Politische Ausweichmanöver

Nemo, Vorjahressieger:in aus Biel, hat sich vor dem Wettbewerb öffentlich gegen die Teilnahme Israels ausgesprochen. «Israels Vorgehen in Gaza steht im grundsätzlichen Widerspruch zu den Werten, die der Eurovision Song Contest angeblich vertritt – Frieden, Einheit und Achtung der Menschenrechte.»

Die Europäische Rundfunkunion (EBU) nahm die Aussage zur Kenntnis. Und wich der Kritik mit schwammigen Allgemeinplätzen aus. Der ESC sei unpolitisch. Anders als noch im Vorjahr ist es den Musikern darum verboten, auf der Bühne in der St. Jakobshalle politische Fahnen zu zeigen. Dazu gehören Regenbogenfahnen als Symbol für die queere Community. Landesfahnen wiederum sind erlaubt. Ausser diejenige Palästinas. Und die russische. 

Denn Russland ist seit 2022 vom Wettbewerb ausgeschlossen. Weil das Land mit dem Angriffskrieg in der Ukraine gegen ESC-Werte verstosse und den Wettbewerb in Verruf bringe, sagte die EBU damals.

Zuckerwatte für die Augen

Wer diese Widersprüche aushält und ein Ticket ergattert hat, kann in der St. Jakobshalle sehen, wozu die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) in der Lage ist, wenn sie 20 Millionen für eine Produktion aufwirft. Eine Bühne wie eine futuristische Autoscooterbahn an der Chilbi, künstlicher Nebel, Zuckerwatte für die Augen und kreischende Gäste inklusive. Alles bewegt sich, alles leuchtet. Manchmal sprühen Funken von der Decke. 

Als die Halle zum Lied «Strobe Lights» von Red Sebastian aus Belgien in einem Blitzgewitter versinkt, vibrieren selbst in der hintersten Reihe von Block C2 die Stühle. Die totale Reizüberflutung. Man wünscht sich zwischendurch eine Fernbedienung, um die Lautstärke runterzudrehen. 

Ganz vorn mithalten. Internationale Klasse sein. Der ESC ist auch für die SRG als Gastgeberin der TV-Produktion eine Gelegenheit, der Welt zu zeigen, was dieses Land zu bieten hat. 

Fazit: viel Swissness. Gletscher. Uhren. Fondue. Schwingen. Alphörner. In den kleinen Video-Einspielern zwischen den Songs präsentierte SRF die Schweiz zeitweise so, als hätte man das ganze Land in eine dieser kleinen Schüttelkugeln gestopft, die es in Souvenirshops zu kaufen gibt. Zum Glück gab es auch selbstironische Töne. Das Schweiz-Musical mit Sandra Studer in der Hauptrolle ging nach dem ersten Halbfinal viral. «Der beste Song der ganzen Show», stand in den Kommentaren. 

In einer Warteschlange ein kurzes Gespräch mit Xavier, der für den ESC aus Portugal angereist ist. «Die Schönheit dieser Veranstaltung liegt für mich in dieser brutalen Übertreibung: diesem enormen Pomp, der Opulenz, dem Zuckerguss über allen Texten und Melodien und Bildern.» 

Gerade daran stören sich viele. Dass diese Spektakelmaschine namens ESC keine Grenzen kennt. Zumal in der Schweiz, wo Selbstregulierung zu den Kardinaltugenden gehört. Was, Xavier, ist so toll an der ästhetischen Masslosigkeit?

Genau das: «Die Übertreibung. Schau dich doch mal um», sagt Xavier und dreht sich mit ausgestrecktem Arm um die eigene Achse. «Schau dir an, wie die Menschen das lieben, wenn man sie lässt.»

«Der Pomp. Die Opulenz. Der Zuckerguss. Die Schönheit dieser Veranstaltung liegt für mich in der Übertreibung.»

Xavier, ESC-Fan aus Portugal

Da geht eine Familie vorbei, Vater, Mutter, zwei Kinder, und der Vater hat sich drei kleine Strasssteine unter die Augen geklebt. Der Sohn trägt einen bunten Schal. Mutter und Tochter tragen Pailletten. Da sind Paare in Funktionsjacken und Laufschuhen. Auf dem Kopf tragen sie etwas, was wie eine Girlande aussieht. Lauter normale Leute mit Federschmuck hinterm Ohr. 

Xavier hat recht: Die Menschen, die da sind, sie lieben das. Der Eurovision Song Contest ist wie ein weiches, plüschiges Kissen unter dunklen Wolken der Normalität. Wer will, lässt sich fallen.