25’000 Franken sollen Opfer von fragwürdigen Medikamentenversuchen erhalten, die in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen TG während Jahrzehnten durchgeführt wurden. Der Kanton Thurgau hat in Verhandlungen mit Novartis erreicht, dass der Pharmakonzern sich mit vier Millionen an den Kosten beteiligt – «freiwillig», wie der Kanton in einer Medienmitteilung schreibt.

Der Kanton Thurgau geht von rund 500 Betroffenen aus und rechnet mit Kosten von rund 12,5 Millionen Franken. Sollte der Betrag nicht ausgeschöpft werden, hat sich der Kanton gegenüber Novartis dazu verpflichtet, dass der Betrag des Unternehmens weniger als 50 Prozent der Gesamtsumme an die Opfer ausmacht.

Noch vor wenigen Jahren wehrte sich der Thurgauer Regierungsrat vehement gegen eine finanzielle Entschädigung der Opfer der Medikamentenversuche. Doch vor einem Jahr stellte sich das Parlament mehrheitlich hinter eine überparteiliche Forderung, den Betroffenen eine symbolische Wiedergutmachung auszuzahlen. 

Umgeschwenkt ist das Parlament nicht zuletzt, nachdem 2019 eine interdisziplinäre Forschergruppe das Ausmass der Medikamententests am Bodensee aufgearbeitet hat. Zwischen 1940 und 1980 hatte der Psychiatrieprofessor Roland Kuhn an rund 3000 Patientinnen und Patienten mindestens 67 nicht zugelassene Substanzen getestet. Dabei wurden die Dragees, Tabletten, Ampullen und Zäpfchen buchstäblich kistenweise nach Münsterlingen geliefert. 

Mit den Versuchen sollten Kosten gespart werden

Ein zentraler Player auf Seiten der Pharmaindustrie war die damalige Firma Geigy. Von ihr stammte auch die grösste dokumentierte Lieferung. 1967 wurden 300’000 Dragees «Keto» geliefert, also Ketoimipramin (auch Ketotofranil oder G 35259 genannt). Aus Geigy wurde Ciba-Geigy, später entstand durch die Fusion mit Sandoz die Novartis. Phasenweise wurden in Münsterlingen pro Monat 30’000 Dragees benötigt. Über Kuhns Forschungsdrang berichtete der Beobachter bereits 2014.  

Die historische Aufarbeitung zeigte auch, dass die Aufsicht in der damaligen kantonalen Sanitätsdirektion wie auch der Regierungsrat von den Versuchen wussten – und sich wenig darum kümmerten. Die kantonalen Behörden übernahmen Kuhns Argumentation, dass er mit seinen Versuchen das Budget für Medikamente senken und damit dem Kanton Kosten ersparen konnte. Von Kuhn ist ein Brief überliefert, in dem er 1989 einem Medizinhistoriker schrieb: «Wir haben Patienten nie um ihre Einwilligung gefragt, ein Versuchspräparat einzunehmen.»

Vorausgesetzt, das Kantonsparlament stimmt dem Gesetz zu, werden Betroffene vom 1. Januar 2025 bis zum 31. Dezember 2028 ihre Ansprüche auf eine finanzielle Entschädigung geltend machen können.