Die Idee ist derart radikal, dass es ein bisschen Kopfkino braucht, um sich das Szenario vorzustellen: Die Hälfte jeder Strasse wäre für Velofahrerinnen und Velofahrer reserviert. Autos und Busse dürften nur noch auf einer Fahrbahn verkehren – und somit nur noch in eine Richtung. Die Velos würden zum Hauptverkehrsmittel in Zürich, Bern oder Basel. Das Stadtbild würde sich komplett verändern.

Das ist die Idee der ETH Zürich für den Stadtverkehr der Zukunft. Sieben Abteilungen erforschen in den nächsten drei Jahren, was die Folgen wären. Und wie die «E-Bike-City» am Beispiel Zürich funktionieren könnte. Nur ein Planspiel, klar, aber ein grosses, in das die renommierteste Schweizer Hochschule viel Arbeit, Personal und Geld investiert.

Die Hälfte jeder Strasse wäre reserviert für Velos, E-Bikes, Trottinetts.

Die Hälfte jeder Strasse wäre reserviert für Velos, E-Bikes, Trottinetts.

Quelle: Visualisierung ETH Zürich

«Um die Klimaschutzziele zu erreichen und damit die Städte lebenswert bleiben, muss sich beim Verkehr etwas ändern», sagt Kay Axhausen, Professor für Verkehrsplanung an der ETH. Im Velo, vor allem in Kombination mit dem kraftsparenden E-Bike, sieht er das grösste Potenzial. «Damit die Menschen wirklich umsteigen, muss eine Stadt aber ganz aufs Velo ausgerichtet sein. Nur ein bisschen, das bringt nicht genug.»

Besser in ÖV investieren?

Verkehrspolitiker sind skeptisch. Und zwar nicht nur solche, die an der heutigen Situation festhalten wollen. «Dass das Auto zu grossen Teilen aus der Stadt verschwinden muss, ist unumstritten. Die Velostadt ist aber nicht die Lösung», sagt Peter Anderegg, ehemaliger SP-Kantonsrat, der sich seit Jahrzehnten für einen nachhaltigeren Stadtverkehr einsetzt.

Er selbst ist am meisten zu Fuss unterwegs, fährt aber auch gern Velo. «Darum weiss ich, dass das Velo ein Schönwetter-Gefährt ist.» Damit Menschen in einer Stadt umweltfreundlich und platzsparend von A nach B gelangen, gebe es zwei Möglichkeiten. «Sie nutzen den ÖV Tempo 30 Bremsen die Städte den ÖV aus? und gehen zu Fuss.»

Anderegg ist seit Jahren Präsident der Interessengemeinschaft öffentlicher Verkehr Zürich. Als Interessenvertreter will er aber nicht gelten. Das Velo zu fördern, sei richtig, findet er. In Zürich und anderen Städten herrsche in der Politik aber zurzeit eine Velo-Euphorie, die blind mache für die Realität. Dass alte Leute, Geschäftsfrauen oder Autopendler aus der Agglomeration in der Stadt vorwiegend Velo fahren, hält er für ausgeschlossen.

«Beim ÖV gibt es hingegen durchaus noch Potenzial.» Etwa für Rufbusse in die Quartiere oder Tramlinien, die nicht übers Stadtzentrum führen.

Nur Velowege, wo sie nicht stören

Anderer Meinung ist Thomas Hug, Verkehrsplaner in einem privaten Zürcher Planungsbüro. «Das Projekt der ETH überrascht mich positiv, bis jetzt habe ich ihre Forschung eher aufs Auto ausgerichtet wahrgenommen.» Natürlich würden niemals alle Velo fahren. «Aber es gibt viele Leute, die gerne mehr das Velo nutzen würden, sich heute auf den Strassen aber nicht sicher fühlen.»

Das Wetterargument überzeugt Hug nicht. Er verweist auf Velostädte wie Kopenhagen Kopenhagen Wo das Velo regiert oder Amsterdam. Dort sei es weder wärmer noch regne es weniger als in der Schweiz. Im Vergleich mit Zürich, Bern oder Basel wird dort allerdings mehr Auto gefahren, was dort das Velo, ist hier der ÖV, sagen Leute wie Anderegg.

Auch das spricht für Hug aber nicht gegen mehr Veloförderung. Ein guter ÖV und gute Bedingungen fürs Velo – das müsse das Ziel sein. «Platz machen muss der Autoverkehr.»

Heute würden in Zürich Velowege vor allem dort gebaut, wo sie niemanden stören. «Da gefällt mir die ETH-Idee, auf allen Strassen Platz fürs Velo zu schaffen.» Wie sich das politisch umsetzen lasse, sei allerdings eine andere Frage.

ETH erwägt auch Scheitern

Die E-Bike-City der ETH ist im Moment auch nur eine Vision. Eine Vision zudem, von der die Forscherinnen und Forscher nicht wissen, wie realistisch und sinnvoll sie ist. «Wir gehen das Projekt ergebnisoffen an und werden die Vor- und Nachteile klar herausarbeiten», sagt Kay Axhausen.

Dass man die Hälfte der Strassen frei macht für Velos, E-Bikes, aber auch für Fussgänger, sei die Ausgangslage. Daraus stellen sich dann die weiteren Forschungsfragen.

Wie bleibt jeder Ort mit dem Auto erreichbar, wenn viele Strassen zu Einbahnen werden? Wie kann der ÖV Preisüberwacher fordert Politik zum Handeln auf Teures Zugbillett, günstiges Auto so flexibel werden, dass er an einem Regentag viel mehr Leute aufnehmen kann? Wie viel würde das alles kosten? Und vor allem auch: Was würde das bringen? In Bezug auf mehr Platz, das Klima, die Sicherheit und die Gesundheit der Stadtbewohnerinnen und Pendler? Das alles will die ETH in den nächsten drei Jahren anfangen zu klären.

Die Stadt Zürich ist am Projekt bewusst nicht beteiligt, soll aber regelmässig informiert werden. Aufgabe der Wissenschaft sei es, der Politik mögliche Lösungen und deren Folgen aufzuzeigen, sagt Axhausen. «Ich bin überzeugt: Je mehr wir über die Idee der E-Bike-City wissen, desto weniger radikal erscheint sie uns.»

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Raphael Brunner, Redaktor
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