«Plötzlich begann unser Haus zu vibrieren»
Als das fatale Gewitter am 12. August 2024 über Brienz hereinbrach, machte Bruno Laternser, 36, noch Witze. Dann kam das Wasser.
Veröffentlicht am 10. September 2024 - 14:45 Uhr
Es war der Geruch, der mir Angst machte. Schweflig, als würde man durch einen Steinbruch gehen. So riecht der Milibach, wenn er viel Geschiebe bringt und die Steine im Bachbett zerbrechen. Feiner Staub liegt dann in der Luft.
Wenige Minuten später hat der Strom das Haus unseres Nachbarn mitgerissen.
Ich wohne mit drei Freunden in einem Chalet im Aenderdorf, dem ältesten Teil von Brienz. Wir sind alle im Dorf aufgewachsen, seit vier Jahren sind wir eine Wohngemeinschaft und leben teilweise als Selbstversorger.
Wir haben 18 Hühner, 3 Enten und unseren Kater Turbo. Wir bauen Mais und Tomaten an und verarbeiten unser eigenes Brennholz.
Wir waren zu dritt zu Hause, als es anfing zu regnen und zu stürmen. Ich ging raus, um die Hühner und Enten in den Stall zu bringen. Turbo hatte sich wohl schon in Sicherheit gebracht, genau wie die Esel des Nachbarn, die in einen höher gelegenen Stall flüchteten. Die Tiere scheinen Zugang zu Instinkten zu haben, die uns verloren gegangen sind.
«Dann kam der Geruch der Steine. Und unser Haus begann zu vibrieren.»
Ich ging auf den Balkon, schickte meinen Mitbewohnern noch ein Video vom Regen und schrieb, dass wir jetzt eine Wasserrutsche mit Pool im Garten hätten. Dann kam der Geruch der Steine. Und unser Haus begann zu vibrieren.
Ich habe mich oft gefragt, wie ich in so einer Situation reagieren würde. Würde ich erstarren, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen? Oder panisch herumschreien? Ich konnte zum Glück relativ ruhig bleiben, zeitweise gerieten wir aber alle in Panik.
«Ein Auto schlitterte an uns vorbei.»
Wir beschlossen: Wir müssen sofort weg. Müllsack geschnappt, Kleider reingeworfen und raus. Doch es war zu spät. Die Strassen hatten sich in reissende Ströme aus Steinen, Baumstämmen und Schmutzwasser verwandelt. Ein Auto schlitterte an uns vorbei, auf der anderen Seite stand die Feuerwehr, aber sie kam nicht zu uns durch.
Jemand rief uns zu, dass ein Hubschrauber kommen würde, doch es kam keiner. Wir sassen fest. Wir konnten nur warten und hoffen, dass unser Haus stehen bleibt.
«Ich sah zu, wie die Häuser meiner Nachbarn unter Trümmern begraben wurden.»
Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange wir gewartet haben. 60 Minuten, vielleicht 90? Meine Erinnerung ist verschwommen. Ich habe immer wieder nachgesehen, ob eine der Strassen wieder passierbar war.
Manchmal überkam mich ein verwirrender Tatendrang, ich fragte mich: Soll ich meine Chili-Pflanzen retten? Oder den Mais? Was ist mit den Hühnern? Das alles, während ich zusah, wie die Häuser meiner Nachbarn unter Trümmern begraben wurden. Ich fühlte mich machtlos.
Irgendwann ging das Wasser etwas zurück, die Feuerwehr überquerte den Fluss zu Fuss und führte uns auf die andere Seite. Kurz darauf stieg das Wasser wieder an.
Sie brachten uns in die Turnhalle von Brienz. Wir hängten uns an unsere Telefone. Alle waren in Sicherheit. Der Nachbar, dessen Haus komplett weggeschwemmt wurde, sass noch in der Kneipe und trank ein Feierabendbier.
«So schlimm es auch ist, so schön ist es, den Zusammenhalt im Dorf zu spüren.»
Am nächsten Tag durften wir für ein paar Minuten in unser Haus zurück. Der Garten war zerstört, nur die Bohnen hingen noch, die Töpfe darunter waren weggespült. Den Hühnern ging es gut, der Stall steckte zwischen zwei Bäumen fest. Der Entenstall wurde weggespült, eine Ente war noch da, die anderen beiden fanden wir später im Schlamm badend auf den Bahngleisen unter unserem Haus.
Turbo wartete nass und dreckig vor der Haustüre. Die Katzenklappe war verstopft. Erst da wurde mir klar, was für ein Glück wir hatten: Die drei Häuser hinter uns schoben den Schutt grösstenteils links und rechts um unser Haus herum.
Ich weiss noch nicht genau, wie ich mich fühle. Ich bin nur froh, dass niemand gestorben ist. Und so schlimm dieses Ereignis auch ist, so schön ist es, den Zusammenhalt im Dorf zu spüren. Niemand musste länger als eine Nacht in der Turnhalle schlafen. Jeder hilft jedem.
Obwohl viel Herzblut und Arbeit buchstäblich den Bach runtergegangen sind, versuche ich, positiv zu bleiben. Vielleicht ist es ein Neuanfang: Das Alte wurde weggespült, es hat Platz gemacht für Neues.
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 18. 8. 2024 veröffentlicht.