Christian Hossli zeigt auf das Flussufer: «Hier, eine neue Biberspur!» Der schöne Flecken heisst nicht umsonst Biberäuli. Die Thur fliesst zweigeteilt, in ihrer Mitte eine grosse Kiesbank. Hier sei nicht nur ein Lebensraum für Nager, sondern auch ein wichtiger Nistplatz für Vögel, sagt Hossli, der als Biologe bei der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva arbeitet. 

Das Biberäuli zwischen Frauenfeld und Uesslingen TG wurde vor 20 Jahren renaturiert. Die Uferzonen wurden abgeflacht, Verbauungen entfernt. Weil der Fluss mehr Raum bekam, konnten sich Kiesbänke bilden.

Der Biber und der Eisvogel kehrten zurück. Die Renaturierung hat aber noch einen Nebeneffekt: Sie vermindert die Gefahr von Hochwasser. Als Folge der Klimaerwärmung werden solche Extremereignisse in Zukunft viel häufiger vorkommen, prognostiziert der Weltklimarat IPCC. 

Diesen Sommer hatten die Thurgauer Glück. Nach den heftigen Niederschlägen im Juli trat ihr Fluss nicht über die Ufer, wie in der Innerschweiz oder im Bernbiet, wo Kellergeschosse und Bahnhöfe geflutet und Autos weggeschwemmt wurden. Und in Deutschland forderte das Hochwasser Dutzende Todesopfer.

Überschwemmungen trotz Dämmen

Unterhalb des idyllischen Biberäuli ändert die Szenerie abrupt. Ab hier verläuft die Thur schnurgerade, der Fluss fliesst durch ein Korsett von Steinen, das man ihm bei der grossen Korrektion vor gut 150 Jahren anlegte. Man wollte damals Land gewinnen und die Gefahr von Hochwassern abwenden. Aber trotz dem Bau von Dämmen kam es immer wieder zu grösseren Überschwemmungen.

Ein gutes Mittel dagegen ist, den Gewässern wieder mehr Raum zu geben – und sie zu renaturieren und zu revitalisieren. Doch genau dabei harzt es jetzt. Die Renaturierungen sind in der ganzen Schweiz stark im Verzug.

Statt der angestrebten 50 Kilometer werden pro Jahr nur 18 Kilometer renaturiert, primär kleine Bäche. Das zeigt ein Bericht des Bundes. 4000 Kilometer Gewässer sollen bis in 70 Jahren natürlicher gestaltet werden – ein Viertel der am gröbsten verbauten Strecken.

Doch wenn es im aktuellen Tempo weitergeht, wird dieses Ziel deutlich verfehlt. Das Bundesamt für Umwelt fordert von den Kantonen daher eine Beschleunigung der Prozesse. 

Fluss frisst sich in die Tiefe

Dabei sind Renaturierungen auch für die Biodiversität wichtig. Rund 80 Prozent aller Pflanzen- und Tierarten in der Schweiz leben in und an Gewässern. Viele sind gefährdet. Drei von vier einheimischen Fischarten sind bereits ausgestorben oder in ihrer Existenz bedroht. 

Vor allem bei den grossen Renaturierungsprojekten harzt es. Die Ursachen sind überall ähnlich, sei es an Rhein, Reuss oder Thur. Für die besonders hochwassergefährdete Luzerner Reuss liegen seit 2006 Pläne vor – doch niemand weiss, wann sie umgesetzt werden.

Auch im Thurgau, wo die alten Dämme nicht mehr stabil genug sind, wäre eine schnellere Gangart sinnvoll. Bei einem extremen Hochwasser der Thur drohen kantonsweit Schäden von fast 600 Millionen Franken. 

«Es gibt keine Alternative dazu, die Thur weiter zu revitalisieren.»

Martin Eugster, Leiter des Thurgauer Amts für Umwelt

Hinzu kommt: Bei Hochwasser wird der Untergrund weggeschwemmt, und der kanalisierte Fluss frisst sich in die Tiefe. Dadurch sinkt der Grundwasserspiegel, was die Wasserversorgung gefährdet.

Der Kanton will deshalb das Flussbett von 50 auf 80 Meter verbreitern und das Land zwischen den Dämmen der Thur zur Verfügung stellen, damit sie ihr Bett wieder natürlicher bilden kann. «Es gibt keine Alternative dazu, die Thur weiter zu revitalisieren», sagt Martin Eugster, Leiter des Amts für Umwelt des Kantons Thurgau.

Bauern kämpfen um Kulturland

Doch Widerstand ist programmiert. «Für die Renaturierung sollen beste Landwirtschaftsflächen geopfert werden. Das ist fahrlässig», sagt etwa Daniel Vetterli, Co-Präsident des thurgauischen Bauernverbands.

Er sei als Biobauer nicht gegen Naturschutz und unterstütze grundsätzlich auch die Renaturierung, doch der Verlust von Kulturland sei einfach zu hoch. «Es ist auch wichtig, Nahrungsmittel zu produzieren», sagt er. Die Thurgauer Bauern fordern darum, dass insgesamt 60 Hektaren Ackerland weniger verlorengehen.

Umgekehrt wollen Gewässerschützer den ursprünglichen Zustand der Thur möglichst wiederherstellen, was noch mehr Land benötigte. «Der Fluss braucht mehr Platz, damit sich die natürliche Dynamik voll entwickeln kann», sagt Christian Hossli von Aqua Viva.

Die Thur soll mäandrieren und Seitenarme bilden können. «So entstehen geschützte Lebensräume, in denen sich Insekten und Fische verstecken und vermehren können.»

Von der Renaturierung profitiere auch die Landwirtschaft, die auf ein funktionierendes Ökosystem angewiesen sei, sagt Hossli. Zudem sei so die Versorgung mit sauberem Trinkwasser sichergestellt, und es entstünde ein attraktives Naherholungsgebiet.

Langwierige Suche nach Kompromissen 

Beim Kanton gingen 1300 Stellungnahmen zum Thurprojekt ein. Sie werden derzeit ausgewertet, danach sollen verbindliche Pläne aufgelegt werden. «Die Interessen divergieren enorm», sagt Martin Eugster vom Amt für Umwelt. «Daher brauchen die politischen Prozesse sehr viel Zeit.»

Zum Beispiel gibt es für die Renaturierung der Thur zwischen Weinfelden und Bürglen seit 2014 ein fertig ausgearbeitetes Projekt. Doch diverse Einsprachen blockieren es. Und die rechtlichen Prozesse lassen sich laut Eugster nicht beschleunigen. Er sagt: «Man sollte juristische Verfahren möglichst vermeiden, indem man die Interessen von Bauern und Umweltverbänden früh berücksichtigt und versucht, einen Kompromiss zu finden.»

Dass die Renaturierungen landesweit stocken, liegt auch am Widerstand der Bauern. Sie kämpfen um jeden Quadratmeter Land. Zwar soll für verlorenes Kulturland Ersatz geleistet werden: Im Idealfall bekommt der betroffene Landwirt ein neues Gebiet an anderer Stelle. Doch es sei unmöglich, alle Flächen zu ersetzen, sagt Martin Eugster. «Dieses Land existiert schlicht nicht.» 

So verlieren die Bauern unter dem Strich zwar Land an die Renaturierung, im Vergleich aber nur sehr wenig, wie das Bundesamt für Umwelt darlegt. Am meisten Landwirtschaftsland geht nämlich durch Neubauten verloren. Und dafür sind auch die Landwirte verantwortlich, die selber bauen.

Aus ganz anderen Motiven blockieren Umweltverbände einzelne Projekte zur Renaturierung. Diese würden sich manchmal mittels 200-jähriger Karten auf einen Naturzustand berufen, der wiederhergestellt werden sollte, sagt ein Gewässerbauingenieur. «Das ist fragwürdig. Denn die Kulturlandschaft hat sich seither massiv verändert.» 

Stau bei den Kantonen

Auch die Behörden sind dafür verantwortlich, dass es mit der Renaturierung nicht schneller vorangeht. Bei den Kantonen und Gemeinden stauen sich die Projekte seit Jahren. Laut Experten mangelt es an Fachpersonal, um diese aufzugleisen und umzusetzen. Zudem wollten manche Kantons- und Lokalpolitiker trotz grosszügigen Bundessubventionen kein Geld lockermachen. 

Der Bund übernimmt bis zu 80 Prozent der Kosten, aber Druckmittel gegenüber den Kantonen, die nicht vorwärtsmachen, hat er keine. Dem Bundesamt für Umwelt bleibt nur, den Kontakt zu suchen, «um Ursachen zu ermitteln und Lösungen zu erarbeiten». Auch müsse man die Mittel erhöhen und die Renaturierungen günstiger gestalten.

Klar ist: Es braucht mehr Tempo, denn das Risiko von Hochwassern steigt mit der Klimaerwärmung. Revitalisierungen helfen aber auch, dass sich das Wasser weniger schnell erwärmt – was für gefährdete Organismen besonders wichtig ist.

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