Am 22. Juni 2023 ging Ladina Christoffel auf Konfrontation. An diesem Tag druckte die «Engadiner Post» ihren offenen Brief ab, in dem sie darüber informierte, dass sie als Chefärztin der Frauenklinik am Spital Oberengadin per sofort freigestellt worden sei – weil sie, so die Spitalleitung, mit ihrer «kritischen Haltung» im Betrieb für «erhebliche Unruhe» gesorgt habe. Gekündigt hatte Christoffel im Mai von sich aus.

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Der offene Brief wirbelte Staub auf. Er machte einen Konflikt öffentlich, der intern schon lange gärte. Die Brennpunkte brachte sie in ihrem Schreiben auf einen kurzen Nenner: Fehlende personelle Ressourcen hätten zu massiven Verstössen gegen das Arbeitsgesetz geführt, dies stelle eine sichere und qualitativ gute Medizin in Frage. 

«Kann die Verantwortung nicht mehr übernehmen»

Die persönlichen Konsequenzen daraus hatte die Gynäkologin zuvor im Kündigungsschreiben an die Stiftung Gesundheitsversorgung Oberengadin (SGO), der Betreiberin des Spitals in Samedan, deutlich gemacht: «So kann ich die Verantwortung für meine Patientinnen und meine Mitarbeitenden nicht mehr übernehmen.»

«Ich muss raus mit Dingen, die ich als ungerecht empfinde.»

Ladina Christoffel

Den Schritt an die Öffentlichkeit hatte sie sich gut überlegt. Sie wollte diese Lawine lostreten, sagt die heute 50-Jährige. Es sollte ein Weckruf sein, sie wollte Reaktionen auslösen. «Dieser Weg entspricht meinem Naturell: Ich muss raus mit Dingen, die ich als ungerecht empfinde. Etwas Ungutes wird nicht besser, wenn man es einfach stehen lässt.»

Herzensdinge zurückgelassen

Nicht, dass Ladina Christoffel der Weggang vom Spital leichtgefallen wäre. Dafür musste sie zu viel zurücklassen. Eine Klinik, der sie ihren Stempel aufgedrückt und zu neuer Reputation verholfen hatte. Ein loyales Team, dessen Wohl ihr am Herzen lag.

Doch nun sorgte sie sich darum. Das gab schliesslich den Ausschlag, für die übergeordnete Sache die Notbremse zu ziehen. «Ich bin gesprungen, ohne zu wissen, wohin.»

Prix Courage des Beobachters: Bühne frei für mutige Menschen

Sommer 2025, zwei Jahre danach. Ein Treffen mit Ladina Christoffel dort, wo sie gelandet ist: in der Selbständigkeit. Seit Januar 2024 betreibt sie in Samedan die «Chesa Sana», eine Praxis für Frauengesundheit. Die meisten der neun Mitarbeiterinnen sind ihr aus dem Spital gefolgt. Auch viele Patientinnen. «Die Dinge entwickeln sich gut», schmunzelt die gebürtige Davoserin, die sich einst vorgenommen hatte, «nie länger als nötig hinter den Flüela zu gehen».

Berichte des Kantons bestätigen die Vorwürfe

Ihre neue Praxis liegt fast in Sichtweite des Spitals. Die meisten der Leitungspersonen, mit denen Christoffel dort aneinandergeraten war, sind längst weg. Aber auch viele ehemalige Arbeitskolleginnen und -kollegen.

«Das Personal rund ums Bett ist das Kapital von jedem Spital.»

Ladina Christoffel

Allein aus dem oberen und dem mittleren Kader seien etwa 40 Leute als Folge der damaligen Turbulenzen gegangen, schätzt die frühere Chefärztin. Ein gewaltiger Verlust an Fachwissen. Für Christoffel ein zu hoher Preis: «Das Personal rund ums Bett ist das Kapital von jedem Spital.» 

Arbeitsinspektorat dokumentiert über 3000 Verstösse

Sparen am Personal schadet der medizinischen Leistung: Was Ladina Christoffel vor zwei Jahren anprangerte, ist inzwischen amtlich bestätigt – und zwar in alarmierender Weise. In zwei Berichten des Bündner Arbeitsinspektorats, die der Beobachter diesen Februar enthüllte, sind über 3000 Verstösse gegen das Arbeitsgesetz dokumentiert, zu denen es im Spital zwischen 2022 und 2024 gekommen ist.

Festgestellt wurden «teilweise gravierende Übertretungen der Arbeits- und Ruhezeitregeln». Was das für die Patientensicherheit bedeutet, bringt im Beobachter-Artikel ein Experte auf den Punkt: «Völlig überarbeitetes Personal ist eine Gefahr.»

Für Ladina Christoffel ist das eine späte Genugtuung. «Es ist natürlich ein gutes Gefühl, rehabilitiert zu werden», sagt sie.

Sie brennt für die Werte der Medizin

Damals, im Sommer nach der Kündigung, als sie öffentlich als Unruhestifterin hingestellt worden war, da sei es ihr «Entschuldigung: beschissen gegangen». Zweifel hätten an ihr genagt, das Ego war angekratzt. «Ich habe mich gefragt: Glauben mir die Leute? Wie geht es nun weiter?» Und vor allem: «Habe ich das Richtige getan?» Um sich jedes Mal selbst zu versichern: «Ich habe doch nichts Schlechtes gemacht!»

Den Satz wiederholt sie im Gespräch in der «Chesa Sana» mehrmals. Sie erklärt: «Ich kämpfe nicht gegen etwas oder gegen jemanden, damals nicht und heute nicht. Ich kämpfe für etwas: dafür, dass die Strukturen im Gesundheitsbereich verbessert werden.» 

Ladina Christoffel am Debattieren: direkt, mitreissend, ohne Punkt und Komma. Rhetorische Spitzen und träfer Humor. Die Hände fliegen, der Blick ist immer aufs Gegenüber gerichtet. Man merkt: Hier brennt jemand für die Werte der Medizin, für eine sichere Versorgung und einen anständigen Umgang mit den Angestellten.

Erfolgreiche Aufbauarbeit  

Die leidenschaftliche Ärztin war 2015 von der Betreiberstiftung SGO ins Engadin geholt worden. Auftrag: Die damals darbende Frauenklinik wieder auf Vordermann bringen. Christoffel ging mit Verve dahinter. «Das mache ich gerne: etwas anreissen, etwas aufbauen.»

2017 gelang ihr ein Coup. Sie holte eine neue Behandlungsmethode für Myome in die Schweiz. Bald nahmen Christoffel und ihr Team mit der minimalinvasiven Technik weltweit die meisten Eingriffe gegen diese Wucherungen in der Gebärmutter vor – alle in der eigenen Klinik. Das wirkte sich positiv auf die Wirtschaftlichkeit des Spitals aus. Samedan war wieder zurück auf der Schweizer Spital-Landkarte.

Mit Gleichgesinnten zusammengetan

Es hätte also gut kommen können. Doch da waren eben diese prekären Arbeitsbedingungen, die sich stetig akzentuierten. Die Eskalation bahnte sich Ende 2022 an, als das Spital eine neue Geschäftsleiterin erhielt – CEO Nummer vier in den acht Jahren, in denen Ladina Christoffel dort war. Irgendwann war für sie das Mass voll: «Ethik und Moral wurden mit Füssen getreten.» 

Als die Vorwürfe später öffentlich wurden, versicherten die damaligen Spitalverantwortlichen, die Patientenversorgung sei sichergestellt. Einzig: In einzelnen Bereichen seien «vorübergehende Engpässe nicht auszuschliessen», so die Geschäftsleiterin gegenüber der «Engadiner Post». Ansonsten sehe man sich mit einer orchestrierten Kampagne konfrontiert, die «gegen die Interessen der Patienten persönliche Motive verfolgt».

Die CEO ist seit knapp einem Jahr nicht mehr im Amt. Die heutige Betreiberstiftung will Vorwürfe gegen die frühere Führung nicht kommentieren.

Ladina Christoffel prangerte schon als frühere Chefärztin die desolaten arbeitsrechtlichen Zustände am Spital Oberengagdin an. 2023 trat sie aus Protest zurück - und setzt sich seither "von aussen" (mit der von ihr gegründeten IG Pro Medico Plus…

«Ich bin gesprungen, ohne zu wissen, wohin»: Ladina Christoffel

Quelle: Joan Minder

Zurück ins Jahr 2023: Nachdem Ladina Christoffel wenige Monate darauf den forcierten Abgang vollzogen hatte, war sie mit ihrem Protest gegen die Missstände nicht mehr allein. Mit zwei anderen Kaderärztinnen hatte sie die Interessengemeinschaft IG Pro Medico Plus gegründet. Schon nach einer Woche waren 30 weitere Personen an Bord. Nachdem eine Anfrage um Anhörung vom Stiftungsrat ignoriert worden war, ging die IG ein Treppchen höher und involvierte den kantonalen Arbeitsinspektor. Der Rest ist Geschichte.

«Die Leute von Samedan sind Heldinnen»

«Wegen des Klimas der Angst, das in vielen Spitälern von der Führung kultiviert wird, ist organisierter Protest im Gesundheitswesen extrem selten», sagt Pierre-André Wagner, Leiter Rechtsdienst des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachpersonen. «Für mich sind die Leute von Samedan deshalb Heldinnen.»

«Gleichgesinnte sollten sich zusammentun und für das Gleiche einstehen. So erreicht man Ziele.»

Ladina Christoffel

Das würde Ladina Christoffel für ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter sofort unterschreiben. Als Prix-Courage-Kandidatin vertrete sie die ganze Gruppe, stellt sie klar: «In der IG liegt die Wucht. Gleichgesinnte sollten sich zusammentun und für das Gleiche einstehen. So erreicht man Ziele.»

Schweizweite Ausstrahlung

Heute gehören der IG Pro Medico Plus etwa 170 Berufsleute aus der Region an, auch aus anderen Branchen – etwa Juristen oder Kommunikationsfachleute. Die IG steht ein für Qualität in der Patientenversorgung, aber auch für ein Klima von Wertschätzung und Vertrauen im Spital. Was als Whatsapp-Gruppe angedacht war, ist zu einem Player geworden, den man anhören und ernst nehmen muss.

Das zeigt Wirkung. Um es mit Ladina Christoffel zu sagen: «Das Rad dreht jetzt in die richtige Richtung.» Am Spital Oberengadin wurden zusätzliche Stellen gesprochen, vor allem im Bereitschaftsdienst. Es wurden eine Personalkommission sowie eine externe Meldestelle geschaffen, und der Kanton pocht auf eine bessere Einhaltung des Arbeitsgesetzes. Christoffel engagiert sich weiter in der Kerngruppe der IG. Die Arbeit ist noch nicht getan.

Von etwas ist sie überzeugt: Der Fall des Spitals Samedan bildet im Kleinen eine Problematik ab, die für viele Gesundheitseinrichtungen in der Schweiz zutrifft. «Ich habe immer gesagt: Eigentlich müsste unsere IG national werden.»

Quellen