Hans-Martin Allemann, Sie sind früher als Rechtsanwalt in Scheidungsverfahren vor Gericht aufgetreten. Heute nicht mehr. Warum das?
Ich ziehe Lösungswege ohne Gericht vor, namentlich mit Mediation. Es gibt zu viel unnötigen Streit, unter dem die Familien und insbesondere die Kinder leiden. Ich bin überzeugt, dass es bei den meisten Scheidungen keine Anwälte braucht.

Damit machen Sie sich vermutlich bei Ihren ehemaligen Kolleginnen und Kollegen nicht gerade beliebt.
Das mag sein. Ich habe auch eine Website aufgesetzt, die das Ziel hat, streitige Gerichtsverfahren zu vermeiden. Dort findet man alle juristische Unterstützung, die es braucht, um eine Ehe fair auseinanderzudividieren. In wirklich streitigen Fällen empfehle ich einen Anwaltskollegen oder eine Anwaltskollegin. Die meisten Klienten wünschen aber eine einvernehmliche, faire Lösung.

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Juristische Unterstützung braucht es aber schon?
Ja, die ist wichtig. Wenn die Menschen nicht wissen, was ihnen juristisch zusteht, kommen zum Teil unhaltbare Lösungen heraus. Das sehe ich manchmal, wenn eine Einigung ohne Fachexpertise getroffen wurde, zum Beispiel von Mediatoren ohne juristischen Hintergrund. Das ist auch nicht gut. Aber die Paare, die ich in meiner Arbeit als Mediator oder auch bei einer juristischen Beratung kennenlerne, sagen eigentlich alle das Gleiche.

Und was wäre das?
Die Männer sind ja meistens die, die etwas abgeben müssen. Und sie sagen eigentlich alle: «Ich bin bereit zu zahlen, was ich muss. Am liebsten einfach nicht mehr.» Und die Frauen meinen handkehrum: «Ich möchte das erhalten, was fair ist. Lieber nicht weniger – aber ausnehmen will ich meinen Ex nicht.»

«Manchmal haben auch Scheidungsanwälte ihren Anteil daran, wenn es eskaliert.»

Hans-Martin Allemann, Rechtsanwalt

Wenn man das so hört, fragt man sich, warum Scheidungen oft so bitterböse werden.
Ich muss sagen, dass die Bitterbösen wohl auch nicht mehr zu mir kommen, daher ist meine Sicht vielleicht etwas verzerrt. Aber ich bin in meinen Jahren als Anwalt zum Schluss gekommen, dass manchmal auch Scheidungsanwälte ihren Anteil daran haben, wenn es eskaliert. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die gehen richtig dazwischen, wenn sich Ex-Paare schon fast wieder vertragen haben.

Weil sie daran verdienen?
Das würde ich nicht so sagen. Aber Fakt ist auch: Scheidungsanwälte sind in der Regel nicht so gut bezahlt wie etwa Wirtschaftsanwälte. Und dann gibt es noch eine Unwägbarkeit, auf die die Paare überhaupt keinen Einfluss haben: die Innenbeziehung der beteiligten Anwälte und Richterinnen.

Sie meinen, dass es sein kann, dass sich zwei Anwälte einfach nicht leiden können – und dann im Scheidungsverfahren zwischen Eheleuten besonders scharf schiessen?
Das kommt vor. Oder dass der Richter eine bestimmte Anwältin nicht mag – und deren Klient dann ohne eigenes Verschulden schlechtere Karten hat vor Gericht.

«Heute mutet es absurd an. Aber damals liess man Privatdetektive um Häuser schleichen.»

Hans-Martin Allemann, Rechtsanwalt

Sie haben 1981 in Graubünden eine Kanzlei eröffnet. Wie liefen Scheidungsverfahren damals ab?
Ich vergleiche das bis 1987 in der Schweiz geltende Ehegüterrecht mit dem iranischen Recht, mit dem ich mich vor einigen Jahren im Rahmen der Weiterbildung zum Fachanwalt beschäftigt habe. Für die Unterhaltsfrage war das sogenannte Verschulden von Bedeutung. Hatte ein Ehegatte, namentlich auch die Frau, eine aussereheliche Beziehung, galt sie schnell einmal als schuldig an der Zerrüttung der Ehe, wie es zu jener Zeit hiess. 

Das Schuldprinzip wurde vor mehr als 20 Jahren aus dem Gesetz gestrichen.
Heute mutet es absurd an. Aber damals liess man wirklich Privatdetektive um Häuser schleichen. Selbst wenn man nur beweisen konnte, dass die Ehefrau in der Dorfbeiz ausgelassen mit einem anderen getanzt hatte, konnte das vor Gericht unter Umständen von Bedeutung sein. Wenn Sie den Richterinnen und Richtern heute mit solchen Geschichten kommen, winken die nur ab. Zu Recht. Aber damals konnten Sie sogar mit einer Strafwartefrist von bis zu drei Jahren belegt werden, bis Sie wieder heiraten durften, wenn das Gericht feststellte, dass Sie schuld am Ende Ihrer Ehe waren.

Dahinter steht der Gedanke, dass eine Scheidung etwas Unchristliches ist. Etwas, das gar nicht vorkommen dürfte.
Natürlich. «Bis dass der Tod euch scheidet», so heisst schliesslich das Ehegelübde. Und wenn Sie sich darüber hinwegsetzen wollten, dann brauchten Sie schon sehr gute Gründe. Selbst häusliche Gewalt galt damals nicht immer als ausreichender Grund. Ich erinnere mich an Arztzeugnisse, die Verletzungen belegen mussten, damit ein Gericht sagen konnte: Doch, das ist ein Grund für eine Scheidung.

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Seither hat sich viel getan. Auch in jüngster Zeit. 2022 hat das Bundesgericht entschieden, dass geschiedene Frauen nicht mehr automatisch Unterhalt erhalten. 
Das Bundesgericht hat die Hürden für nachehelichen Unterhalt graduell erhöht. Namentlich der Begriff der lebensprägenden Ehe wurde zwar weniger schematisch, dafür aber strenger ausgelegt. Es war nicht eine Totalumkehr, im Unterschied zu dem, was man gelegentlich in der Presse liest. Aber schon eine Verschärfung der Rechtsprechung. Besonders, was die Kinderbetreuung angeht. In Fällen mit Sozialhilfe wird häufig bereits ab dem Alter von einem Jahr volle Erwerbstätigkeit verlangt.

Für viele Frauen war das ein Schock. Wer Jahre oder sogar Jahrzehnte lang nicht gearbeitet hat, um sich um Kinder und Haushalt zu kümmern, hat schliesslich oft schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Grundsätzlich wird verlangt, dass gesunde Ehegatten nach einer Scheidung ihre Erwerbsmöglichkeiten ausschöpfen. Gleichzeitig soll aber eine reduzierte Erwerbsfähigkeit berücksichtigt werden, namentlich, wenn sie die Folge einer einvernehmlichen Rollenteilung während der Ehe ist. In der Praxis wird diese Leitlinie des Bundesgerichts von unteren Gerichten nicht immer ausreichend berücksichtigt. Dies trifft vor allem die ältere Generation.

«Liebe ist immer ein Risiko.»

Hans-Martin Allemann, Rechtsanwalt

Haben Sie schon erlebt, dass Paare nach einer Scheidung wieder zusammengefunden haben? 
Das kommt ab und zu vor. Wenn sich Menschen auseinandergelebt haben, aber eigentlich keine schlimmen Verletzungen passiert sind. Dann kommt gar nicht so selten die Erkenntnis, dass doch nicht alles schlecht war. Und dann probiert man es vielleicht noch einmal.

Ist es Ihnen schon passiert, dass sich das gleiche Paar zweimal hat scheiden lassen?
Ja, auch das habe ich schon erlebt. Mit der ersten Scheidung veränderte sich ihr Leben. Und diese Veränderung konnte durch eine nochmalige Heirat nicht einfach ungeschehen gemacht werden. 

Gibt es einen Tipp, den Sie jungen Paaren geben würden? Einen Ehevertrag zum Beispiel?
Einige meiner Kolleginnen und Kollegen schwören auf Eheverträge. Ich bin persönlich eher skeptisch, soweit es um Unterhalt und Vorsorgeausgleich geht. Zu viel Absicherung und zu viele vertragliche Vorsichtsmassnahmen sind für mich eher Ausdruck von Ängstlichkeit. Liebe ist immer ein Risiko. Aber jede und jeder ist zum Glück frei in der Entscheidung, insbesondere vor der Heirat.

Getrennt? Wie haben Sie sich organisiert?

Die Liebe ist erloschen, aber die Verbundenheit geblieben – wir sammeln ermutigende und inspirierende Beispiele, wie sich Paare nach dem Ende ihrer Liebesbeziehung neu arrangiert haben.
Betreuen Sie die Kinder gemeinsam? Teilen Sie mit Ihrer ehemaligen Partnerin einen Familiengarten oder einen Hund? Führen Sie mit Ihrem Ex einen Betrieb weiter? Oder haben Sie für ein anderes Projekt gemeinsam eine gute Lösung gefunden?

Dann möchten wir Ihre Geschichte hören! Ihre Erfahrungen können anderen helfen, ähnliche Herausforderungen zu meistern. 

Bitte melden Sie sich hier.

Quelle