«Das ist schlicht ein Angriff auf die Demokratie»
Älteren Menschen das Stimmrecht entziehen? Die Idee der Politologin Rahel Freiburghaus löste heftige Reaktionen aus. Ex-SP-Nationalrätin Bea Heim sieht darin eine Altersdiskriminierung.
Veröffentlicht am 10. Oktober 2025 - 16:28 Uhr
«Jung und Alt gegeneinander auszuspielen, bringt uns nicht weiter», sagt die ehemalige SP-Nationalrätin Bea Heim (79).
Beobachter: Bea Heim, die Politologin Rahel Freiburghaus sagte kürzlich in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», das Wahlrecht ab einem gewissen Alter zu streichen, würde die Dominanz der Senioren brechen. Was halten Sie davon?
Bea Heim: Das ist ein Angriff auf die Demokratie und widerspricht der Verfassung, namentlich dem Diskriminierungsverbot und dem Schutz des Stimmrechts aller volljährigen Schweizerinnen und Schweizer.
Aber das Alter der Abstimmenden steigt und liegt heute im Mittel schon bei 60 Jahren. Sehen Sie da gar kein Problem?
Man geht offenbar davon aus, dass alle über 65 gleich stimmen, was schlicht falsch ist. Die politischen Meinungen älterer Menschen sind genauso unterschiedlich, wie die jüngerer Generationen. Die Abschaffung des Eigenmietwerts beispielsweise unterstützten alle vier bürgerlichen Jungparteien, während ihn die von mir präsidierte Dachorganisation der Senioren- und Selbsthilfeorganisationen abgelehnt hat.
Zur Person
Warum?
Weil die Vorlage Nachteile für junge Familien und Mietende mit sich bringt. Die Behauptung greift zu kurz, das Ja zur Abschaffung sei vor allem auf das Abstimmungsverhalten der älteren Generation zurückzuführen. Sie verkennt, dass auch unter den Älteren sehr unterschiedliche Meinungen bestehen – und übersieht das erhebliche finanzielle Engagement, das die Befürworterseite in diesen Abstimmungskampf gesteckt hat.
Die Hauseigentümerquote bei Älteren ist besonders hoch – es ist also wahrscheinlich, dass viele mit Blick auf die eigenen Interessen abgestimmt haben. Und es gehen mehr Alte als Junge an die Urne. Leben wir zunehmend in einer Herrschaft der Alten?
Die Altersgruppen der Schweizer Stimmbevölkerung sind recht ausgeglichen. Laut dem Bundesamt für Statistik gab es 2024 etwa gleich viele über 65-jährige Stimmberechtigte wie 20- bis 39-Jährige. Leider gehen Junge seltener an die Urne als die ältere Bevölkerung. Würden sie ihre demokratischen Rechte nutzen, könnten sie zahlenmässig durchaus mit den Älteren mithalten. Das ist aber noch längst kein Grund, Letztere dafür als Übermacht zu kritisieren und ihnen das Stimmrecht entziehen zu wollen.
«Jung und Alt gegeneinander auszuspielen, bringt uns nicht weiter.»
Alt Nationalrätin Bea Heim
Sind die Jungen also selbst schuld, wenn sie wie etwa beim Eigenmietwert überstimmt werden?
Die höhere Stimmabstinenz bei Jungen ist ein Fakt. In St. Gallen gehen im Schnitt nur 30 Prozent der Jungen zur Urne, im Gegensatz zu 63 Prozent der Älteren. Aber es geht nicht um Schuld. Vielmehr sind die Ursachen dafür zu untersuchen: Was müsste die Politik besser machen, damit Junge realisieren, dass Politik alle betrifft?
Die ältere Generation ist auch in Parlamenten und Regierungen deutlich stärker repräsentiert.
Ich frage mich, ob 50-Jährige auch schon zu den Älteren gezählt werden. Mir fehlen eher die 70-Jährigen im Parlament. Was mir in der Alterspolitik oft begegnet, ist eine ausgrenzende Sprache, etwa ist die Rede vom «grauen Tsunami» oder von einer Überalterung. Das ist eine Diskriminierung. Ich habe den Eindruck, dass 50-Jährige im Parlament sich oft noch zu jung fühlen, um die realen Bedürfnisse im Alter politisch wahrzunehmen.
Sie sehen also ein grösseres Problem der Altersdiskriminierung in der Gesellschaft?
Ja. Wir erleben Altersdiskriminierung im Arbeitsmarkt, etwa bei Entlassungen über 50. Auch im Wohnungsmarkt und im Gesundheitswesen gibt es diese. So werden Medikamente oft nur an Jüngeren geprüft, was zu falschen Dosierungen bei Älteren führt. Und der Bund hat bis heute noch kein Programm für Sicherheit im Alter, obwohl dies zu den Kernbereichen der staatlichen Aufgaben gehört. Ein weiterer Punkt: Alte Menschen erleben häufig Gewalt und Verwahrlosung. Der Bund schätzt, dass jedes Jahr 300’000 bis 500’000 Menschen betroffen sind.
Das klingt schrecklich.
Auch die Sprache von Medien und Politik ist oft diskriminierend. Das Beispiel mit dem Entzug des Stimmrechts ist da nur noch Öl ins Feuer. Jung und Alt gegeneinander auszuspielen, bringt uns nicht weiter. Wir müssen zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft aller Generationen finden.
- Kontroverse Aussagen von Politologin Rahel Freiburghaus: Interview mit den Tamedia-Zeitungen
- Interview mit Bea Heim: Sie ist Co-Präsidentin des nationalen Dachverbands aktiver Seniorinnen und Senioren sowie Selbsthilfeorganisationen für ein Alter in Würde und Selbstbestimmung