«Ich werde dafür bestraft, dass ich behindert bin»
Der indirekte Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative empört Behindertenorganisationen: Der Bundesrat verwässere die Kernanliegen. Der 18-jährige Julian Moser protestiert heute mit anderen Betroffenen in Bern.
Veröffentlicht am 29. September 2025 - 10:47 Uhr
Julian Moser sitzt mit Cerebralparese im Rollstuhl. Er will, dass Menschen mit Behinderung endlich als gleichwertig anerkannt werden. Dafür demonstriert er heute in Bern.
Seit Juni 2025 ist der indirekte Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative in der Vernehmlassung. Er umfasst zwei Teile: ein neues Inklusionsrahmengesetz und eine Teilrevision des Invalidenversicherungsgesetzes.
Im Rahmengesetz wird insbesondere das «Wohnen in Institutionen» behandelt. Ein Rechtsanspruch auf selbstbestimmtes Wohnen kommt nicht vor, ebenso wenig der Zugang zu Assistenz- und Unterstützungsleistungen. Weitere Lebensbereiche wie Arbeit, Bildung, ÖV, Freizeit, Sport und Kultur fehlen gänzlich.
Scharfe Kritik an Gesetzesvorlage
Verschiedene Behindertenorganisationen kritisieren den vorliegenden Entwurf deshalb scharf. «Ein Gesetz, das Menschen mit Behinderungen weiterhin in Institutionen verdrängt, ist keine Grundlage für eine Inklusionspolitik», sagt etwa Iris Hartmann, Geschäftsleiterin des Vereins für eine inklusive Schweiz, des Trägervereins der Inklusions-Initiative.
«Das Gesetz muss eine volle Teilhabe von allen Menschen mit Behinderung ermöglichen.»
Julian Moser, 18, politischer Aktivist im Rollstuhl
Auch der 18-jährige Julian Moser, der mit Cerebralparese im Rollstuhl sitzt, ist schwer enttäuscht. Und hässig: «Ich werde dafür bestraft, dass ich behindert bin», sagt er zum Beobachter. Er kennt den täglichen Kampf als Betroffener nur zu gut. «Das Gesetz muss endlich eine volle Teilhabe von allen Menschen mit Behinderung ermöglichen.»
Moser wohnt seit Mai 2025 in einer Wohngemeinschaft mit «Normalen», so nennt er Menschen ohne Behinderung. Von der IV bekommt er aber nur sechs Stunden tägliche Assistenz zugesprochen – viel zu wenig, um aktiv am Leben teilzunehmen. Er sitzt deshalb oft stundenlang zu Hause fest, da niemand da ist, der ihm beispielsweise beim Anziehen hilft. «Das darf doch nicht sein», empört sich der junge Mann, der sich als «politischer Aktivist» bezeichnet. Damit er selbstbestimmt leben könne, was ja sein Recht sei, benötige er eine tägliche 24-Stunden-Assistenz. Dass ihm diese verwehrt wird, macht ihn wütend.
Postkarten-Protest auf dem Bundesplatz
Am Montagnachmittag protestiert er mit anderen Betroffenen auf dem Bundesplatz in Bern. In den letzten Wochen hat der Verein für eine inklusive Schweiz Postkarten gesammelt, auf denen Betroffene ihre Gedanken zum Gegenvorschlag festhalten konnten.
Eine der Protestpostkarten, die Julian Moser am Montag in Bern überreichen wird.
Diese Botschaften richten sich an das Departement von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider. Die persönlichen Nachrichten zeigen auf, an welchen Stellen der Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative dringend nachgebessert werden soll.
Niemanden ausschliessen
Statt allgemeiner Grundsätze brauche es konkrete Rechte, verbindliche Umsetzungsstrategien und einen umfassenden Geltungsbereich. «Der Entwurf zementiert eine Definition von Behinderung, die aktuell drei Viertel der 1,9 Millionen Menschen mit Behinderung von diesem Inklusionsgesetz ausschliesst», bringt es Iris Hartmann vom Verein für eine inklusive Schweiz auf den Punkt. Ausgeschlossen seien etwa Menschen mit psychischen oder chronischen Erkrankungen, die zwar stark eingeschränkt sind, aber keine IV-Rente beziehen. Oder auch Personen, die erst im AHV-Alter eine Behinderung bekommen und keine IV-Leistungen erhalten. «Das darf nicht sein.»
Rund 800 Karten sind zusammengekommen. Julian Moser wird diese den Zuständigen übergeben. «Leider nimmt Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider nicht selber teil. Das enttäuscht mich – wir sind es ihr offensichtlich nicht wert», sagt er.
- Inklusions-Initiative: Initiativtext
- Bundesamt für Sozialversicherungen: Inklusions-Initiative: Indirekter Gegenvorschlag des Bundesrats
- Der Verein für eine inklusive Schweiz ist Trägerverein der Inklusions-Initiative und wird gestützt von Agile, Amnesty International Schweiz, Inclusion Handicap, der Stiftung für direkte Demokratie und vom Verein Tatkraft, die zusammen über 50 Organisationen vertreten.
- «SRF Dok»-Film von Dieter Gränicher mit Julian Moser: «Leben mit Hindernissen»