«Runter, nicht bewegen. Ein Auto kommt», flüstert die schwarzgekleidete Aktivistin Sonja Tonelli in ihr Headset und wartet. Als die Thurgauer Nacht die Scheinwerfer verschluckt hat, richtet sie sich auf und schleicht zackig auf die Lagerhalle neben der Hauptstrasse zu. «Hier gehts rein.» Der zweite Aktivist, gekleidet und verschwiegen wie ein Soldat, drückt die hölzerne Stalltür auf und verschwindet geräuschlos.

Drinnen ist es dunkel und schwülwarm. Es riecht nach Mist und Kleintiergehege. Tausende frisch geschlüpfte Küken piepsen aufgeregt. Gespenstisch leuchten sie unter dem Strahl der Taschenlampe auf. In fünf Wochen werden sie so fett sein, dass sie kaum mehr stehen können. Aktivistin Tonelli steht Wache. Der Aktivist in Tarngrün fotografiert das Leid der Küken. 

Realos gegen Fundis

Ein paar Tage später, kurz vor neun. Über den Viadukt im Zürcher Industriequartier rauscht der Interregio Richtung Frauenfeld. Unten im «Impact Hub» presst eine Kaffeemaschine Cappuccinos. Mit pflanzlicher Milch. Philipp Ryf und das Kampagnenteam haben keine Zeit zu vergeuden. Zu sechst sind sie. Studiert und voll politischem Optimismus. Auch ihnen geht es ums Tierwohl. Aber da hören die Gemeinsamkeiten mit den Aktivisten im Thurgau auch schon auf. 

Sonja Tonelli ist die neue Chefin des Vereins gegen Tierfabriken, kurz VgT. Mit zerschlissenen Turnschuhen steht die 50-Jährige zwischen ausgemusterten Nutztieren auf dem «Lebenshof» des Vereins in Buhwil TG. Gegründet wurde der VgT, als die Berliner Mauer fiel. Seither setzt er auf Krawall, publiziert Schockbilder aus Ställen, hält Mahnwachen vor Schlachthöfen. Dass 2017 die Bilder der verhungerten Pferde aus Hefenhofen TG an die Öffentlichkeit gekommen sind, ist sein Verdienst. 

Bis vor einem Jahr war der VgT mit der Person des verstorbenen Erwin Kessler gleichgesetzt. Ein Held für die einen, für die anderen ein rotes Tuch. Kessler prangerte das Schächten an und verglich das Massentöten von Tieren mit dem Holocaust. Das trug ihm den Vorwurf des Antisemitismus ein, gegen den er sich sein Leben lang wehrte – er verklagte alle, auch Tierschützer, sofort, die ihn erhoben.

«Die glücklichen Tiere auf grünen Wiesen sind eine Lüge, denn auch hinter solcher Tierhaltung steckt viel Leid.»

Sonja Tonelli, Präsidentin des Vereins gegen Tierfabriken

Philipp Ryf ist Co-Präsident von Sentience Politics. Gegründet wurde die Tierschutzorganisation, als Russland die Krim annektierte. Weniger Stallgeruch, weniger radikal, weniger fragwürdig. Statt auf Krawall setzt sie auf politische Mittel. Ihr aktuelles Projekt: die Initiative gegen Massentierhaltung, über die im September an der Urne entschieden wird. 

«Wir machen Politik für Tiere», sagt Ryf, der seit seinem zehnten Lebensjahr vegetarisch lebt und Politikwissenschaft und Nachhaltige Entwicklung studiert hat. Über eine Facebook-Gruppe ist er im Studium auf Gleichgesinnte gestossen, zusammen haben sie Sentience gegründet. Das Ziel? Eine vegane Gesellschaft oder – in Ryfs Worten – eine «möglichst leidfreie Gesellschaft». «Wir haben kein Interesse, den Status quo zu bewahren. Wir exponieren uns, für den Wandel, den wir uns wünschen.»

Der VgT unterstützt die Initiative von Sentience nicht. «Die glücklichen Tiere auf grünen Wiesen sind eine Lüge, denn auch hinter solcher Tierhaltung steckt viel Leid», sagt Sonja Tonelli. Eine Lüge, die die Initiative weiter zementiere, indem sie einen Umstieg der Tierproduktion auf die Bio-Mindeststandards fordere. «Es macht für ein Huhn doch keinen Unterschied, ob es nur mit 2000 Tieren im Stall lebt, wie das die gesetzlichen Änderungen der Initiative vorsehen, oder mit ein paar tausend mehr, wie heute in der konventionellen Haltung.» Tonelli ist radikal. Wie es Erwin Kessler war. Nur im Ton ist sie gemässigter.

97 Prozent der Legehennen haben ein gebrochenes Brustbein – weil sie auf Hochleistung gezüchtet sind.

Rund 50 Kilo Fleisch pro Jahr, pro Kopf. So hoch ist der Fleischkonsum in der Schweiz seit 20 Jahren. Inzwischen etwas mehr Huhn, etwas weniger Schwein. Trotz Vegiboom und alternativem Protein im Kühlregal. Eine Lust auf Fleisch, die den Thurgauer Küken ans Leben geht. Schon in wenigen Tagen werden sie in den Schlachthof der Micarna verfrachtet. Und dort mit Kohlendioxid getötet und dann zerlegt. Sie landen als Poulet in der Migros. Ihr Schicksal haben die meisten Konsumentinnen und Konsumenten beim Griff ins Kühlregal wohl längst vergessen.

Eine Mehrheit des Parlaments findet das nicht so schlimm und hält die Massentierhaltungsinitiative für unnötig. Sie hat stattdessen einen weichen Gegenvorschlag formuliert und verweist auf das Schweizer Tierschutzgesetz – immerhin eines der strengsten weltweit. «Trotzdem sind wir meilenweit von echtem Tierwohl entfernt, selbst bei uns in der Schweiz, selbst beim Biolabel.» Das sagt nicht etwa Sonja Tonelli oder Philipp Ryf, sondern ein Wissenschaftler: Hanno Würbel , Tierschutzprofessor an der Uni Bern. Wie es den Tieren wirklich geht, wisse aber auch er nicht genau.

Wissenschaftlich direkt messbar sind bislang nur körperliche Schäden, Krankheiten und Verhaltensstörungen. Subjektive Empfindungen können nur indirekt erschlossen werden. Neuere Methoden erlauben aber immer besser, aus dem Verhalten und der Mimik der Tiere auf ihr Befinden zu schliessen. Die Forschung könne aber nur die wissenschaftliche Grundlage liefern, um Verbesserungen des Tierwohls durchzusetzen, sagt Würbel. «Solange wir als Gesellschaft so viel und so günstig Fleisch essen wollen, muss die Landwirtschaft an die Grenze der Belastbarkeit der Tiere gehen. So ist unvermeidbar, dass sie leiden.»

«Tierschützer, die unsere Initiative kritisieren, haben sie wohl nicht verstanden.»

Philipp Ryf, Co-Kampagnenleiter der Initiative gegen Massentierhaltung

Im Zürcher Viaduktbogen ist die Kampagne für die Massentierhaltungsinitiative in vollem Gang. Ein Chaos aus Laptops, Flyern und Kaffeetassen. «Tierschützer, die die Initiative kritisieren, haben sie wohl nicht verstanden», sagt Philipp Ryf und wird dann ernst. «Wir bewerben Bio nicht als Goldstandard. Im Gegenteil. Bio ist das absolute Minimum.»  

Die Initiative fordere nur das politisch am ehesten Durchsetzbare: tierfreundliche Unterbringungen, Auslauf, schonende Schlachtung und Haltung in kleineren Gruppen. Zahlreiche Studien zeigen, dass es erst echte Verbesserungen für das Tierwohl, für die Gesundheit und für das Klima geben werde, wenn im grossen Stil weniger Fleisch Kartoffeln statt Kotelett Wie sich die Schweiz selbst ernähren könnte konsumiert werde. Für diese gewandelte Zukunft stelle die Initiative die Weichen. «Und sorgt dafür, dass die Landwirtschaft in 25 Jahren nicht im Abseits steht», sagt Ryf.

«Uns geht es nicht darum, die Bauern anzuprangern. Das wäre zu einfach. Das System dahinter ist das Problem.»

Sonja Tonelli, Präsidentin des Vereins gegen Tierfabriken

Es ist drei Uhr morgens irgendwo zwischen Frauenfeld und Steckborn. Der Mond leuchtet zu hell. Sonja Tonelli und der Aktivist in Militärgrün auf der Rückbank sprechen kaum. Sie sind konzentriert, adrenalingeladen wie Sportler vor einem Wettkampf. Auf den Hügeln draussen grasen friedlich ein paar Kühe. «Hier ist wieder eine Tierfabrik», sagt Tonelli und zeigt auf eine unscheinbare Halle am Strassenrand. Das versteckte Leiden der unzähligen Schweine und Hühner müsse man in die Öffentlichkeit zerren. Tonelli biegt auf einen Schotterweg ab und versteckt das Auto am Waldrand. 

Zielstrebig marschieren sie auf das letzte Objekt der Nacht zu, einen Bio-Schweinebetrieb. Im Licht der Taschenlampe zerplatzt die Bioillusion. Eine Muttersau liegt in der Blutlache ihrer Plazenta. In der nächsten Bucht entdeckt der VgT-Aktivist eine Totgeburt. Ein schwer verdauliches Bild. Das bisschen mehr Stroh auf dem Betonboden, Biolabel sei Dank, macht das Ganze auch nicht viel besser.

«Uns geht es nicht darum, die Bauern anzuprangern. Das wäre zu einfach. Das System dahinter ist das Problem», sagt Tonelli. Und regt sich dann über die Steuermillionen auf, die Swissmilk und Proviande erhalten, um für Milch und Fleisch zu werben. So kurble man mit Staatshilfe die Haltung von Kühen und anderen Nutztieren an, statt sie zu drosseln.

Erst vor kurzem rückte auch der «Tages-Anzeiger» das Bild des Bioidylls etwas zurecht. Per Öffentlichkeitsgesetz erhielt die Zeitung die Kontrollberichte von Biohöfen der letzten Jahre. Das Resultat: 2600 Verstösse pro Jahr, im Schnitt. Viele davon waren zwar nur geringfügig. Aber das ist wohl nur die Spitze des Eisbergs. Denn anders als der VgT gehen die Labelkontrolleure nur bei Tag und mit den Bauern gemeinsam über die Höfe – meist auch angekündigt. Das bringe nichts, kritisiert Tonelli. Nur mit illegalen Aktionen könne man die Problematik der Nutztierhaltung den Menschen direkt ans Herz pflanzen.

Düstere Prognose für Massentierhaltungsinitiative

Auf dem Plakat der Massentierhaltungsinitiative springen rosa Säuli herum. Einer Umfrage der SRG von Mitte August zufolge werden 51 Prozent mit Ja stimmen. «Es wird schwer, dieses Ja bis zur Abstimmung zu halten. Es wäre eine Sensation», sagt Philipp Ryf. Es ist nicht die erste Initiative von Sentience, die an der Urne keine allzu grossen Chancen hat. In Basel-Stadt forderte die Organisation Grundrechte für Primaten ein. Die Initiative schoss ins Leere. Zum Zeitpunkt der Abstimmung im letzten Februar lebten in Basel gar keine Primaten.

Ryf sitzt in Shorts und Flipflops an einem Shared Desk und wirkt nicht unglücklich über die düstere Prognose zur Initiative. Der Weg sei das Ziel. Wie bei den Primaten habe man auch hier Diskussionen angestossen und verschiedene Interessenvertreter an einen Tisch gebracht. Landwirte, Umweltverbände, Grossverteiler und Tierschützer. Das allein sei schon ein Erfolg. «Die Politik ist der einzige Weg für einen Wandel.»

Denkt Sentience radikal? «Wahrscheinlich ja», sagt Ryf. Aber die Organisation versuche auch, die Bevölkerung den Weg zu einer tiergerechteren Gesellschaft selber gehen zu lassen. Das nütze den Tieren mehr als diktatorisches Fordern und Abschrecken. Das mache schon der VgT.

Das Radikalen-Paradox: Zustände wie bei der Klimabewegung

«Dass es harte Fronten zwischen Sentience und dem VgT gibt, erstaunt mich nicht», sagt Lukas Fesenfeld, Politologe an der Uni Bern. «Ähnliche Fronten verlaufen auch durch die Klimabewegung, etwa bei Fridays for Future und Extinction Rebellion.» Fronten, die dem Klima und dem Tierwohl aber nicht schadeten, sondern eher nützten, so Fesenfeld. Denn die Radikalität der einen sorge für eine bessere gesellschaftliche Verträglichkeit der anderen. So sei Sentience für einen Grossteil der Bevölkerung im Verhältnis zum VgT legitimer, die eigentlich radikalen Ideen der Organisation fänden eher Anklang. Sie könne so mehr bewegen. 

Würden Sentience und der VgT auch zusammen fürs Tierwohl kämpfen? «Nein», sagt Philipp Ryf entschieden. Sentience setze auf Allianzen, arbeite aber nur mit Organisationen zusammen, die auch etwas verändern können. «Der VgT war einmal relevant, doch die Zeiten haben sich geändert.» Dagegen sprechen die stabilen Mitgliederzahlen des VgT und die grosse Auflage der monatlichen Zeitschrift. Doch der Verein steht im Abseits. Dem Tierwohl haben Erwin Kesslers Provokationen mehr geschadet als genützt.

Die Gegnerschaft hat Gründe. So musste etwa die grüne Nationalrätin Meret Schneider, das Aushängeschild der Massentierhaltungsinitiative, Kessler mehrere Zehntausend Franken Entschädigung zahlen, weil sie ihn als Antisemiten bezeichnet hatte. Obwohl das Bundesgericht in einem späteren Fall entschied, dass man genau das dürfe. Schneider musste in der Folge jahrelang Schulden abstottern. Erst mit dem Geld des Nationalratsmandats war ihr das möglich. Mit dem VgT will sie nichts mehr zu tun haben. 

Und Sonja Tonelli? Die neue Chefin des VgT hätte die Chance, alte Fronten aufzuweichen, doch dafür müsste sie sich von Erwin Kessler distanzieren. Das will die 50-Jährige nicht. «Ich habe mir vorgenommen, mich von solchen Dingen nicht mehr entmutigen zu lassen, sondern meine Konzentration und Kraft für die Tiere einzusetzen.» Die Bilder der Aktion im Thurgau werde sie an Weihnachten veröffentlichen. Wenn die Abstimmung zur Massentierhaltung schon lange gelaufen ist.

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