Unsere Urgrosseltern hatten es gut: Sie konnten noch im Heu oder unter einer Birke liegen, ohne gleich niesen oder nach Luft ringen zu müssen. Zwar gab es auch vor 100 Jahren schon Heuschnupfen und Asthma, aber längst nicht im selben Ausmass wie heute: Weniger als zwei Prozent der Bevölkerung litten bei uns vor 80 Jahren an einer Pollenallergie. Heute sind es zwischen 15 und 20 Prozent.

Noch stärker ist die Zunahme bei der Neurodermitis: 15 bis 30 Prozent der Kinder und zwischen 2 und 10 Prozent der Erwachsenen leiden an der Hautkrankheit. Nach Schätzungen der Europäischen Stiftung für Allergieforschung litten im Jahr 2015 rund die Hälfte aller Menschen in Europa an irgendeiner Form von Allergie.

Allzu eifrige Körperabwehr führt zu Allergie

Woran liegt das? Neuere Studien lassen vermuten, dass erstens bei der Entstehung von Allergien die Belastung mit Mikroorganismen eine Rolle spielt. Und dass zweitens unsere allzu hygienische Lebensweise dem Immunsystem schadet.

Im Normalfall bekämpft dieses erfolgreich gefährliche Eindringlinge wie Bakterien, Viren oder Pilze und wehrt so Krankheiten ab. Kommt es aber zu einer Überreaktion, ist eine Allergie die Folge. Die Körperabwehr ist dann allzu eifrig bei der Sache und schlägt schon bei harmlosen Einflüssen wie Blütenpollen, Hausstaub oder Katzenhaaren Alarm – und reagiert mit Hautausschlägen, Heuschnupfen, Asthma.

Weshalb Sie nicht auf Tierhaare allergisch sind

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Eigentlich ist niemand auf Tierhaare allergisch. Weshalb, erklärt Dr. Twerenbold.
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Mehr Krankheitserreger – besseres Training fürs Immunsystem

Wie das Immunsystem den Körper verteidigt, ist in erster Linie genetisch bedingt. Es kann aber trainiert werden: Mit jeder neuen Infektion lernt es, mit einem bestimmten Erreger fertig zu werden. Das erklärt auch, warum es völlig normal ist, dass Kinder in den ersten Lebensjahren immer wieder Erkältungen entwickeln. Im ersten Lebensjahr sind sie durchschnittlich siebenmal erkältet, zwischen eins und vier sogar neunmal. Erwachsene hingegen leiden im Schnitt noch zwei- bis dreimal im Jahr an einer Infektion.

Als Hygiene noch nicht so gross geschrieben wurde wie heute, konnten sich Krankheitserreger leicht verbreiten. Noch vor 100 Jahren hausten viele Menschen mit ihren Tieren unter einem Dach – und so auch mit Keimen und Bakterien. Mangels sanitärer Anlagen kamen damals auch die Städter laufend mit einer Vielzahl von Mikroben, Bakterien und Parasiten in Kontakt. Auch Kühlschränke setzten sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts durch.

Frühe Gewöhnung an Bakterien ist von Vorteil

Heute jedoch könnten die meisten Schweizer Kinder vom Fussboden essen. Diese auf den ersten Blick idealen, weil nahezu sterilen Lebensbedingungen können jedoch zum Bumerang werden: In einer klinisch sauberen Umgebung fehlt dem kindlichen Abwehrmechanismus schlicht das Übungsfeld. Bereits Ende der neunziger Jahre wiesen Schweizer Forscher nach, dass Landkinder dreimal weniger häufig an Asthma und Heuschnupfen leiden als Stadtkinder. Ein Ergebnis, das in der Folge durch internationale Studien bestätigt wurde. Sie konnten nachweisen, dass das Allergierisiko sank, weil das Immunsystem der Bauernkinder durch den Kontakt mit Bakteriengiften laufend stimuliert und gestärkt worden war. Je häufiger die Kinder mit diesen in Kontakt kamen, etwa via Tierkot oder Hausstaub, umso seltener litten sie an Heuschnupfen oder Asthma.

Damit das Immunsystem positiv beeinflusst werden kann, sollte die Gewöhnung möglichst früh stattfinden. An der Allergieklinik für Kinder und Jugendliche in Davos hat man herausgefunden, dass Kinder, die vor dem ersten Lebensjahr Kontakt mit Stalltieren hatten, ein reduziertes Risiko, an Allergien zu erkranken haben. Auch konnte man nachweisen, dass bei Landkindern die weissen Blutkörperchen eine erhöhte Anzahl bestimmter Eiweissmoleküle aufwiesen, die es dem Immunsystem ermöglichen, Mikroorganismen besser zu erkennen und darauf zu reagieren.

Von Rosskuren wird abgeraten

Eine Langzeitstudie lässt vermuten, dass das kindliche Immunsystem sogar schon vor der Geburt geprägt wird. Das Immunsystem der Kinder verändert sich zum Beispiel bereits, wenn sich die Mutter während der Schwangerschaft oft in einem Stall aufgehalten hat. Ebenfalls wird vermutet, dass noch andere Faktoren mitspielen – möglicherweise auch die Ernährung, etwa das Trinken von frischer Kuhmilch.

Einig sind sich Fachleute darüber, dass eine übertriebene Hygiene kontraproduktiv ist. Die Forschungsarbeiten sind daher auch schon salopp unter dem Titel «Schmuddelhypothese» zusammengefasst worden. Was jedoch nicht bedeutet, dass man sich nicht mehr waschen darf oder die Kinder schmutzig herumlaufen lassen sollte. Sprich: Man sollte wieder mehr Mut zur Normalität haben. Wenn ein Kind spielt und sich dabei Sand in den Mund steckt, ist das keine Katastrophe, sondern normal.

Kinder quasi mit Schmutz zu impfen ist aber keine Lösung: Das Wissen, dass der Kontakt zu bestimmten Bakterien das Immunsystem stärken kann, ist nicht einfach auf den Alltag von Stadtmenschen übertragbar. Denn Ferien auf dem Bauernhof oder ab und zu ein Besuch im Pferdestall reichen nicht aus, könnten sogar kontraproduktiv sein: Leidet also ein Kind bereits an Heuschnupfen, ist von Bauernhofferien eher abzuraten.

Immunsystem: So bleiben Kinder gesund

Vermeiden lassen sich Erkältungen bei Kindern nicht. Das soll auch so sein, denn sie fordern und stärken das körpereigene Abwehrsystem. Wenn Sie folgende Tipps beherzigen, kommt Ihr Kind aber möglicherweise glimpflicher durch den Herbst und den Winter und ganz nebenbei tun Sie, etwa wenn Sie mit ihm an die frische Luft gehen, auch Ihrer eigenen Gesundheit etwas Gutes.

 

  • Aktivitäten an der frischen Luft tun dem Kind gut. Draussen herumtollen kurbelt unter anderem das Immunsystem an. Gehen Sie mit dem Kind in den Park, auf den Spielplatz oder in den Wald, wenn möglich täglich. Auch das Tageslicht hilft, das Immunsystem zu stärken.
  • Die richtige Kleidung: In festen Schuhen, warmen Socken, einer atmungsaktiven Jacke und einem dicken Schal gehen Kinder auch an Wintertagen gern nach draussen.
  • Eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse sowie regelmässig und in einer entspannten Atmosphäre eingenommene Mahlzeiten wirken sich positiv auf das Immunsystem aus.
  • Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kinder ausreichend trinken. Andernfalls trocknen die Schleimhäute aus und werden so anfälliger für Erreger.
  • Vitamin C allein kann Erkältungen leider nicht verhindern. Allenfalls kann es dabei helfen, sie zu verkürzen. Zitronensaft (mit kochendem Wasser verdünnt und mit Honig gesüsst), frisch gepresster Orangensaft, Peperoni (in kindgerechte Streifen geschnitten) oder Kiwis (in Scheiben oder zum Löffeln) enthalten besonders viel Vitamin C.
  • Lassen Sie Ihr Kind genügend schlafen. Ausreichend Erholung stärkt die Abwehrkräfte zusätzlich.
  • Pflanzliche Mittel zur Immunstärkung sollten bei Kindern erst ab zirka vier Jahren und nur während kurzer Zeit (ein paar Tage) verwendet werden. Grund: Das Immunsystem ist bei Kleinkindern noch nicht ausgereift.
  • Wenn wir uns gut fühlen, sind wir weniger anfällig für Krankheiten. Lassen Sie deshalb die Lebensfreude, den Spass und gute Beziehungen nicht zu kurz kommen – das gilt für die ganze Familie.
     
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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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