Frage eines Lesers: «Ich will meine Willenskraft stärken. Was können Sie mir raten, um das zu schaffen?»

Besten Dank für Ihr Schreiben. So, wie es klingt, sind Sie wirklich sehr bemüht, Ihr Leben bewusst zu gestalten und nach Ihren Werten zu leben. Und doch hadern Sie immer wieder und sind immer wieder sehr enttäuscht von sich selbst.

Die Natur und der Umweltschutz waren Ihnen immer schon sehr wichtig, seit Jahren setzten Sie einen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit. Mit der ganzen Diskussion rund um die Energieverknappung und die Klimaerwärmung setzten Sie sich aber noch zusätzliche Ziele. Sie nahmen sich vor, auf warmes Wasser möglichst zu verzichten – sei es beim Händewaschen oder unter der Dusche.

Zehn Tage lang ging das gut. Dann hatten Sie eine Erkältung und gönnten sich deshalb auch aus gesundheitlichen Gründen wieder das warme Wasser. Seither blieben Sie irgendwie dabei. Geblieben ist aber auch das schlechte Gewissen. Weil sich dieses Muster wiederholt Selbstdisziplin Warum klappt es nie mit den guten Vorsätzen? , bitten Sie nun um Ratschläge.

Wie ein Muskel

Viele Leute wollen die eigene Willenskraft stärken. Dabei gewinne ich aus Ihrem Schreiben den Eindruck, dass Sie eigentlich bereits sehr willensstark sind und vieles in Ihrem Leben sehr willensbestimmt und kontrolliert abläuft.

Man kann sich die Willensstärke wie einen Muskel vorstellen. Wenn dieser Muskel bereits gut durchtrainiert ist und nun seine Leistung noch mehr gesteigert werden soll, stellt sich die Frage der Balance mit dem Rest des Körpers. Zudem braucht der Muskel ja auch Erholungszeit, um leistungsfähig zu bleiben.

«Längerfristig ist es erfolg­reicher, sich an sechs Tagen auf eine gute ­Ernährung zu konzentrieren, als sich darum zu bemühen, zu 100 Prozent genau das Rich­tige zu essen.»

Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Präsident von Pro Mente Sana

Sich sehr häufig an übergeordneten Werten zu orientieren und auf langfristige Ziele zu fokussieren, heisst ja auch, kurzfristig gewisse Bedürfnisse zu unterdrücken. Und es braucht eben auch Raum für Spontaneität, manchmal muss man einfach im Moment sein können, auch das hat einen Wert.

Aus Studien wissen wir: Wenn wir unseren Willen zu sehr auf ein einziges Thema konzentrieren, werden wir in anderen Themen nachlässig. Auch unsere Psyche hat eben nur eine begrenzte Energie, und es ist eine Frage der Verteilung.

Deshalb ist hier die 80- oder 90-Prozent-Regel so wichtig. Längerfristig ist es erfolgreicher, sich an sechs Tagen auf eine gute Ernährung zu konzentrieren, als sich darum zu bemühen, zu 100 Prozent genau das Richtige zu essen. Weil man beim 100-prozentigen Anspruch Schuldgefühle entwickelt, wenn man ihn alle drei Wochen eben auch mal nicht einhält – weil man spontan von der besten Freundin auf einen Kuchen eingeladen wird und dann «versagt» .

Der Wille braucht aber auch Unterstützung durch unsere Emotionen. Oft kommen wir ja gerade wegen unserer Gefühle ins Schleudern. Zum Beispiel das mit der Temperatur beim Duschen: Für viele wirkt das kalte Wasser eben nicht nur physikalisch kalt, sondern auch gefühlsmässig – vielleicht herzlos, exponierter, ungemütlich. Das ist alles wenig motivierend.

Das Positive suchen

Hier haben wir nun zwei Möglichkeiten. Wir können uns das längerfristige Ziel auch emotional vorstellen, im Sinne einer Vorfreude. Ein Beispiel: «Mit meinen Handlungen haben die Schmetterlinge, die ich so liebe, eine bessere Überlebenschance.» Dabei stellen Sie sich nun eine Blumenwiese vor mit diesen Schmetterlingen, die mit Leichtigkeit von Blume zu Blume fliegen.

Oder Sie versuchen bei der gewünschten Handlung Positives auf der Gefühlsebene zu finden. Kaltes Wasser hat auch etwas Erfrischendes, Lebendiges und Weckendes. Wer ein paar Wochen lang immer kalt duscht, freut sich genauso auf die kalte Dusche wie eine andere Person sich auf eine heisse – und beschreibt dabei häufig genau besagte Aspekte.

«Vorfreude und Belohnung wirken längerfristig besser als Angst und Vermeiden von Strafe.»

Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Präsident von Pro Mente Sana

Wie Sie bemerken, konzentriere ich mich in meinen Ausführungen auf das Positive. Ein Verhalten wird längerfristig besser bestärkt durch das Erlangen von etwas Positivem als durch das Vermeiden von etwas Negativem. Vorfreude und Belohnung wirken längerfristig besser als Angst und Vermeiden von Bestrafung.

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Zusätzlich spielen aber noch zwei Aspekte: Wir Menschen sind soziale Wesen. Die Beziehungsebene ist wichtig, um ein Verhalten nachhaltig zu ändern. Wenn Sie also mit Freundinnen oder Nachbarn abmachen, von nun an immer kalt zu duschen, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass es gelingt. Wichtig ist dabei aber, dass Sie sich auch regelmässig dazu austauschen und sich gegenseitig in Ihrem Verhalten bestärken.

Am einfachsten allerdings können wir unser Verhalten ändern, wenn gar die Wahlmöglichkeit wegfällt. Es ist einfacher, einen Apfel zu essen, wenn ich nicht daneben auch noch Vermicelles und einen Brownie stehen habe. Das Beobachter-Medienhaus in Zürich hat in den Toiletten einfach das warme Wasser abgestellt. Niemand vermisst es.

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