Frage einer Leserin: «Können Sie mir sagen, wie ich mich besser selbst einschätzen kann?»

Dieses Anliegen kennen wohl die meisten von uns. Wir sehen uns unerwartet in einem Spiegel oder in einem Video – und sind erstaunt, wie anders wir uns von innen wahrnehmen als von aussen. Die Nase wirkt vielleicht prominenter, die Körperhaltung irritiert, auch die Stimme klingt anders.

Für Ihre Frage gab es drei kleinere Auslöser. Zum einen eben genau so ein Video, das Ihr Neffe drehte. Er lebt in der Romandie, und Sie waren immer stolz, dass Sie Französisch fast ohne Akzent sprechen. Im Video klang es dann doch erstaunlich schweizerdeutsch unterlegt.

Dann sprachen Sie mit Ihrem Bruder über ein Geburtstagsfest in der Kindheit. Dabei merkten Sie, wie unterschiedlich Sie beide dieselbe kurze Episode erlebt hatten. Jemand von aussen hätte kaum erraten, dass es sich um die gleiche Geschichte handelt.

«Es muss uns bewusst sein, dass jede Wahrnehmung persönlich gefärbt ist.»

Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH

Am wichtigsten war aber wohl der letzte Sonntag, den Sie mit drei guten Freundinnen verbrachten. Es kam zu einem Streit zwischen einer der Freundinnen und Ihnen. Für Sie war sonnenklar, dass der Auslöser im Verhalten der anderen begründet war. Die beiden anderen Freundinnen teilten Ihnen aber durch die Blume mit, eigentlich hätten Sie den Streit ausgelöst und zu sensibel reagiert. Das kam für Sie völlig aus dem Nichts und widersprach diametral Ihrer Wahrnehmung.

So sind Sie nun doch recht verunsichert. Es ist Ihnen wichtig, was andere von Ihnen halten. Sie möchten niemanden vor den Kopf stossen und auch nicht «schwierig» sein.

Von Emotionen geleitet

Unsere Wahrnehmung ist mehr oder weniger persönlich gefärbt. Das hat auch viel Gutes. Wenn Eltern ihr Neugeborenes betrachten, sehen sie nicht einfach ein Wesen mit einem Kopf und vier Extremitäten, das unverständliche Laute von sich gibt. Bindungshormone führen dazu, dass sie ihr Kind mit emotionalen Augen betrachten. Die Bindungshormone bewirken hier Emotionen, die das Überleben des Neugeborenen sichern sollen.

Wenn wir hingegen in einer Krisensituation sind, führen Stresshormone Stress und Körpersymptome Körper im Alarmzustand zu einem Tunnelblick. Sie bewirken, dass unser Blick sich auf das Überlebenswichtige fokussiert und alles andere ausgeblendet wird. Deshalb sind bei schwierigen Konflikten die Wahrnehmungen und Erinnerungen oft so unterschiedlich.

«Erinnerungen entstehen aus bereits emotional gefärbten Wahrnehmungen.»

Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH

Ein illustrierendes Beispiel aus meiner Arbeit als Psychiater betrifft die Anorexie oder Magersucht. Wenn wir uns in einem Spiegel anschauen, wird in der Regel vor allem die Sehrinde im Hirn aktiviert. Emotionale Zentren und Gedächtniszentren spielen auch mit, aber nur etwa zu einem Fünftel. Wenn sich allerdings eine junge Frau mit Magersucht im Spiegel betrachtet, ist das Verhältnis genau umgekehrt. Sie sieht weniger ihren Körper, sondern vielmehr eine Selbstbeurteilung ihres Körpers.

Ähnlich schwierig ist es mit Erinnerungen. Sie entstehen aus bereits emotional gefärbten Wahrnehmungen und werden dann noch laufend durch unser Hirn weiterbearbeitet. Die Probleme entstehen hier und auch in den anderen Situationen vor allem daher, dass wir uns solcher Prozesse nicht bewusst sind und davon ausgehen, dass unsere Wahrnehmung jener aller anderen entspricht.

Ein Video von sich selbst analysieren

Eine bessere Selbstwahrnehmung wird möglich, wenn wir wissen, dass unsere Wahrnehmung persönlich gefärbt ist, und das bewusst so wahrnehmen. Hilfreich kann es sein, mal ein Video aufzunehmen – und es dann mit einer guten Freundin anzuschauen und zu vergleichen, was man da sieht. Oder reelle Ereignisse mit allen Beteiligten nachzubesprechen, alle Blickwinkel zu sehen und sich bewusster zu werden, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen und Erinnerungen sind.

Dabei geht es nicht um ein Richtig oder Falsch. Der Eiger sieht bekanntlich aus jeder Himmelsrichtung anders aus, und doch handelt es sich um denselben Berg. Wenn man wissen will, wie der Berg aussieht, braucht man all diese Perspektiven und versucht nicht, die anderen zu überzeugen, dass die Nordwand der einzig richtige Eiger sei.

Man kann sich dem Thema auch spielerisch nähern und ein paar Stunden Schauspielunterricht einsetzen. Wenn man eine Person spielt, die selbstsicher wirken Selbstbewusstsein «Ich zweifle sofort an mir» soll, wird einem bewusster, wie die eigene Stimme und Körperhaltung tatsächlich ist und wirkt.

Hilfreich sind aber vor allem auch Achtsamkeitsübungen Psychologie «Ich habe keine Zeit für Achtsamkeit» oder eine Psychotherapie. In der Achtsamkeit geht es genau darum, emotionale und instinktive Anteile an der Wahrnehmung etwas herunterzufahren. Unser Leben ist in der Regel recht sicher geworden, und unser Überlebensmodus ist heute eher etwas überaktiviert und steht uns so fast etwas im Weg.

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Wissen, was dem Körper guttut.
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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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