Die schlimmsten Alpträume für Schuhhändler in St. Gallen und Boutiquenbesitzer in Genf nehmen in Piräus Gestalt an. Im Containerhafen von Athen hat die China Ocean Shipping Company das Steuer übernommen – und seit 2009 kräftig investiert. Chinas Vision: eine neue Seidenstrasse. Eine möglichst schnelle, effiziente Handelsroute von China nach Europa.

Piräus soll der Brückenkopf sein. Hier werden 3,7 Millionen Container jährlich abgefertigt. Wenn in ein paar Jahren die Schnellbahnlinie nach Serbien und Ungarn fertiggestellt ist, lagern Handyladekabel, Turnschuhe und Stabmixer aus China plötzlich nur noch einige hundert Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt in riesigen Logistikzentren. Vom Klick auf den Bestellbutton im Onlineshop bis zum Klingeln des Kuriers an der Tür dauert es dann noch maximal zwei Tage.

Patrick Kessler mag sich das nicht allzu genau vorstellen. Heute hat der Geschäftsführer des Verbands des Schweizerischen Versandhandels noch allen Grund zur Zufriedenheit. Die Wachstumsrate der Branche: phänomenal. Das Vertrauen ins Onlineshopping: gross. Doch Kessler sieht die Zukunft nur mässig rosig: «Da kommt etwas Gewaltiges auf uns zu.»

China drängt in den Schweizer Markt

Kürzlich hielt Kessler vor Branchenvertretern einen Vortrag über Trends im Schweizer Onlinehandel. Dabei zeigte er eine einfache Grafik mit zwei Linien. Die rote verläuft weit oben und steigt an. Sie zeigt die Anzahl Pakete, die Schweizer Versandhändler jährlich verschicken. Die zweite, gelbe, liegt bis ins Jahr 2014 deutlich weiter unten. 2015 macht sie plötzlich einen Knick, weist steil nach oben und kreuzt irgendwann im Jahr 2017 die rote Linie.

Gelb bedeutet Ungemach: Es sind Pakete, die direkt im Ausland bestellt werden. Der grösste Teil stammt aus Asien. Eine Erklärung für den urplötzlichen Anstieg: 2015 bot Aliexpress, die Website des chinesischen Onlinegiganten Alibaba, seine Artikel erstmals auf Deutsch an. Zwar holpern die Beschreibungen noch gewaltig (iPads finden sich etwa unter «Tabletten»), doch die Preise sind unschlagbar tief. Und das Angebot ist gigantisch.

Im ersten Halbjahr 2017 fertigte die Schweizer Post pro Tag 45'000 Sendungen aus Fernost ab, rund 40 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. «Wir gehen davon aus, dass die Mengen aus dem asiatischen Raum weiterhin im zweistelligen Bereich ansteigen», sagt Post-Sprecher Oliver Flüeler.

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Doch die Paketflut kommt nicht nur aus dem Osten. Ende November meldete die «Bilanz», dass der US-Onlineriese Amazon mit der Post praktisch handelseinig sei. Seine Pakete sollen schon in den kommenden Wochen innert dreier Stunden von der Post verzollt werden können und innert 24 Stunden beim Kunden sein. Damit holt der Onlinehändler in einer Domäne auf, in der der Offlinehandel bislang Vorteile hatte: beim Tempo. Wer ein Produkt möglichst schnell in Händen halten will, hat jetzt die Wahl.

Alibaba mit Millionen von Billigstprodukten aus Fernost, Amazon mit allem, was das Herz begehrt, aus den USA – es droht für den Schweizer Onlinehandel zum Sturm zu werden, der auch die traditionellen Verkaufsgeschäfte zerzaust. Denn Schweizerinnen und Schweizer kaufen immer mehr online ein. 2017 werden sie rund 8,5 Milliarden Franken im Netz ausgeben, doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Bei den Elektronikartikeln wird heute bereits ein knapper Drittel online gekauft.

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Die noch vor wenigen Jahren allgegenwärtige Angst davor, im Netz die Kreditkartennummer einzugeben? Wie weggeblasen. Die Skepsis, wenn man einen Onlineverkäufer nicht kennt? Praktisch inexistent. Beratung? Dafür gibts im Internet zu fast jedem Produkt Tests und Erfahrungsberichte. Persönliche Beratung im Laden ist noch jedem Zweiten wichtig, zeigt eine aktuelle Studie der Hochschule für Wirtschaft Zürich. Dafür bezahlen wollen allerdings immer weniger. Man geht höchstens noch in den Laden, um die Ware anzuschauen, kauft aber online. Das Phänomen nennt sich neudeutsch Showrooming und ist das Schreckgespenst der Ladenbesitzer, die Ware für ein breites Publikum anbieten.

Beat Zürcher ist einer von ihnen. Das Sportgeschäft, das er in dritter Generation führt, steht in Frutigen im Berner Oberland, gleich neben Fussballplatz, Tennisklub und Hallenbad. Eine ideale Lage für ein Sportgeschäft, aber er kämpft mit sinkenden Umsätzen. Nicht dass er spürbar weniger Laufkunden hätte, doch die wollen Skier, Fussballschuhe oder Winterjacken oft bloss noch anprobieren, bevor sie sie dann online billiger bestellen. «Was machsch mir für nä Priis?» Zürcher mag die Frage nicht mehr hören. Gegen die Onlineshops hat er keine Chance. Sein Preis wird stets höher liegen.

Offline anprobieren, online kaufen

Der Sporthändler hat deshalb den Spiess umgedreht: Wer im Laden ohne Beratung etwas kauft, bekommt Rabatt. Wer sich nur beraten lässt, aber nichts kauft, zahlt nach Zeitaufwand: CHF 1.20 pro Minute. Die Umsätze seien zwar immer noch deutlich tiefer als in den besten Zeiten, sagt Zürcher, «aber unter dem Strich fahre ich so besser».

Noch kein Rezept hat der Frutiger gegen diejenigen gefunden, die eigentlich seine Verbündeten sein sollten: die Lieferanten. Zürcher kann im Laden bloss eine Winter- und eine Sommerkollektion präsentieren – doch grosse Sportartikelhersteller wie Nike oder Adidas stellen in ihren Onlineshops alle paar Wochen ein neues Sortiment vor. Da hilft es nichts, wenn treue Kunden Artikel daraus über das Sportgeschäft beziehen möchten: «Dann muss ich es bestellen, und bei einer obligatorischen Mindestbestellmenge von ein paar hundert Franken lege ich gleich wieder drauf. Zudem geht die Lieferung meistens auch noch länger.» Selbst wenn der Kunde guten Willens ist: Gegen den Onlinehandel zieht Ladenbesitzer Zürcher den Kürzeren.

Beat Zürcher in seinem Sportgeschäft

Wer kauft, bekommt Rabatt, Beratung kostet: Beat Zürcher reagiert in seinem Sportgeschäft auf das neue Einkaufsverhalten

Quelle: Marco Zanoni

E-Commerce als Bedrohung? Showrooming? Samuel und Nina Klötzli machen andere Erfahrungen. Für den Messerladen in Bern und Burgdorf, den die Geschwister dereinst von ihren Eltern übernehmen werden, haben sie schon vor vier Jahren einen eigenen Webshop eingerichtet. Als Coop und die Swisscom den Online-Handelsplatz Siroop lancierten, gehörte die Messerschmiede zu den Ersten, die einen Teil ihres Angebots dort präsentierten. Jetzt ist man Teil eines riesigen digitalen Gemischtwarenladens. Für jeden Verkauf kassiert Siroop eine Kommission.

«Wir sind in einem Nischenmarkt tätig, nicht in einem Massengeschäft wie Bekleidung oder Sportartikel», sagt Samuel Klötzli. «Wer nur auf Schnäppchen aus ist, wird bei uns nicht fündig werden.» Zumal die Firma selber wenig Interesse daran hat, die Preise zu drücken: Klötzli betreibt auch einen Grosshandel und beliefert andere Geschäfte.

Das Onlinegeschäft sei für sie Neuland gewesen, sagt Samuel Klötzli: «Erwartungen hatten wir nicht.» Aber auch keine Angst, dass der Onlinehandel die beiden Verkaufsgeschäfte bedroht. Bisher ist eher das Gegenteil der Fall: «Der Webshop bringt auch den einen oder anderen Kunden in den Laden», sagt Nina Klötzli. «Es kommt durchaus vor, dass uns jemand einen Screenshot unseres Webshops auf dem Handy zeigt und das Produkt in die Hand nehmen will.» Und mit der entsprechenden Beratung ergebe sich nicht selten ein Geschäft.

Wer flexibel ist, findet vielleicht wie die Klötzlis eine Nische. Tatsache ist, dass der stationäre Handel weltweit in einer tiefen Krise steckt. Die radikalsten Marktbeobachter prophezeien ihm sogar ein baldiges Ende. Jeder Franken, der in ein traditionelles Einkaufszentrum investiert wird, ist ein verlorener Franken, sagt etwa der E-Commerce-Experte Thomas Lang.

Nina und Samuel Klötzli

«Der Webshop bringt Kunden in den Laden»: Nina und Samuel Klötzli sind mit ihrem Messerladen seit vier Jahren online.

Quelle: Marco Zanoni
Was aus den leeren Ladenlokalen wird

Die USA sind der Schweiz in Sachen Trends stets zehn Jahre voraus. Die Probleme, mit denen Manhattan heute zu kämpfen hat, kommen morgen nach Münchenbuchsee. Vor ein paar Tagen titelte die «New York Times»: «Warum ist unsere Stadt voll von verwaisten Shops?» Die Antwort lautet gleich wie bei uns: weil die Konsumenten ins Netz abwandern. Man mag zwar lebendige Innenstädte, schaufelt aber mit jedem Onlinekauf an Tante Emmas Grab. In den USA geistert der Begriff der «Dead Malls» herum, in der Schweiz spricht man vom «Lädelisterben». Die Folgen dieser Entwicklung sind alarmierend. Leerstehende Läden verändern nicht nur das Aussehen einer Stadt. Wo nichts mehr los ist, leidet auch das Sicherheitsgefühl. Deshalb beschäftigt Stadtplaner derzeit vor allem eine Frage: «Wie weiter nach der Retail-Apokalypse?»

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Zahlen der Beratungsfirma Wüest Partner bestätigen den Eindruck. Nie in den letzten zehn Jahren stand mehr Verkaufsfläche leer: 600'000 Quadratmeter, fast doppelt so viel wie 2013. Dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend, fallen die Preise. In den letzten vier Jahren sanken die Mieten für freie Verkaufsflächen um zehn Prozent. «Eine Trendwende ist nicht in Sicht», so Jörg Schläpfer, Leiter Makroökonomie bei Wüest Partner.

Händler, die bislang mit möglichst viel Verkaufsfläche Kunden angelockt haben, müssen ihre Strategie anpassen. Wer überleben will, sagen Experten, brauche ein Cross-Channel-Konzept, also einen funktionierenden Onlineshop mit zentral gelegenen Abholstationen oder Showrooms. So zahlt man weniger Miete und suggeriert dem Kunden: «Wenn du uns brauchst, sind wir für dich da.» Media-Markt, der jahrelang für riesige Verkaufslabyrinthe stand, verkleinert derzeit seine Schweizer Filialen und investiert zugleich in Service und Beratung. Wo sich die Regale früher über 2500 Quadratmeter erstreckten, genügen heute 800.

Wie ein Job in einer anderen Galaxie

Während die Läden in der Innenstadt schrumpfen, wuchern in der Peripherie die Logistikcenter. Eine alte Fabrikhalle am Stadtrand von Wohlen AG, verkehrstechnisch perfekt gelegen. Wo früher Stahl gegossen wurde, betreibt Digitec Galaxus seit 2009 eine der modernsten und grössten Verkaufsmaschinen der Schweiz. An die industrielle Vergangenheit erinnern nur noch verlebtes Mauerwerk und ein rostiges Kranhäuschen.

Über dem Mitarbeitereingang hängt ein Bild. «Kings of E-Commerce», steht darauf in Neonbuchstaben. «Das ist unser Ziel», sagt Logistikchef Michel Boha bei der Führung durch den sieben Fussballfelder grossen Betrieb. Die Migros-Tochter ist mit über 700 Millionen Franken Jahresumsatz Platzhirsch in der Schweiz. Rund eine Million Produkte gibt es bei Digitec Galaxus, eine Verdoppelung des Angebots ist geplant.

Beim Wareneingang docken bis zu zehn Lastwagen zugleich an. Mitarbeiter mit Handscannern registrieren alles, was reinkommt. Eine Software entscheidet, welcher Lagerplatz ideal ist. Sie tut es nicht nach menschlicher Logik. Was häufig nachgefragt wird, landet an einem schnell erreichbaren Ort. Kaffeekapseln neben USB-Sticks, Barbiepuppen neben Funkweckern. Eine effizientere Methode gibt es nicht.

Logistikcenter von Digitec Galaxus in Wohlen AG

Eine der grössten Verkaufsmaschinen der Schweiz: das Logistikcenter von Digitec Galaxus in Wohlen AG.

Quelle: Kilian J. Kessler

Herzstück des Logistikcenters ist seit diesem Herbst das automatische Kommissionierlager in einem eigenen Gebäudeteil, der nur über eine kleine Tür erreichbar ist. Zutritt für Unbefugte: streng verboten. Drinnen zischt und surrt es im Halbdunkel, es erinnert an einen Science-Fiction-Film. Riesige Roboterarme verstauen unablässig Kisten in den 18 Meter hohen Regalen oder befördern Schachteln auf Fliessbänder, die bei den Verpackungsstationen ausserhalb des Kubus landen.

Erst hier kommt der Mensch zum Einsatz. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter füllen Schachtel um Schachtel, versehen die Sendungen mit Adressetiketten, wuchten die Lieferungen auf Paletten für den Versand. An normalen Tagen verlassen 14'000 Pakete das Center im Aargau, am Rabatt-Tag Black Friday Ende November waren es 24'000. Für die Adventszeit hat die Firma 35 zusätzliche Lagermitarbeiter eingestellt, die in zwei Schichten Waren rüsten und verpacken. Von 5 Uhr früh bis 22 Uhr spät.

Die Fliessbandgeschwindigkeit gibt die Produktivität vor. Wenn ein Mitarbeiter das Tempo nicht halten kann, kommt die Verkaufsmaschine ins Stottern. Dann stapeln sich die Pakete am Boden. «So was sehe ich gar nicht gern», sagt Michel Boha. Es sei ein knüppelharter Job, gibt der Logistikchef zu. «Aber manche suchen genau das.»

Kontrollzentrum bei Digitec Galaxus

Wenn die Maschine ins Stottern gerät, leuchtet es rot auf dem Schirm: Kontrollzentrum bei Digitec Galaxus.

Quelle: Kilian J. Kessler

Der Mindestlohn im Lager Wohlen beträgt 3800 Franken im Monat, 100 weniger als der Mindestlohn für Ungelernte, der im Migros-Gesamtarbeitsvertrag festgehalten ist. Man entscheide von Fall zu Fall, ob ein Unternehmen der Migros-Gruppe diesem unterstellt werde, sagt dazu Migros-Sprecherin Martina Bosshard: «Momentan gibt es für Digitec Galaxus keine Pläne.»

Harte Arbeit zu tiefen Löhnen, das wäre für die Gewerkschaften ideales Terrain, um Mitglieder zu gewinnen. Doch Syna, Syndicom und Unia sind in der Branche kaum präsent. Die Unia hat im letzten Sommer versucht, das Terrain zu sondieren. Die Resultate waren ernüchternd: «Mitgemacht haben Verkaufspersonen, Marketing- und Büroangestellte von grossen Onlinehändlern», sagt Unia-Mediensprecher Arnaud Bouverat. «Das ergibt ein verzerrtes Bild, weil Onlinehändler auch schlecht bezahlte Logistikmitarbeiter beschäftigen.»

Deren Probleme sind der Unia bekannt: zu lange oder zu flexible Arbeitszeiten, Stress und repetitive Aufgaben, die Auswirkungen auf die Gesundheit haben, schlechte Arbeitsbedingungen bei Subunternehmen. Allerdings sei es viel schwieriger, an Mitarbeitende von Onlinehändlern heranzukommen als an solche in Läden. «Wir sind erst am Anfang der Arbeit in diesem Bereich.»

Ein Gesamtarbeitsvertrag für die Branche? Kein Thema, im Ausland sind die Löhne noch wesentlich tiefer. Der durchschnittliche Stundenlohn bei Amazon Deutschland: 10.60 Euro. Brutto, versteht sich. In Polen und Tschechien, wo der Onlinegigant neue Verteilzentren aufgebaut hat, gibts noch nicht mal halb so viel. Die Angestellten zahlen damit den Preis für fast unbeschränkte Konsummöglichkeiten in den kaufkräftigen Gegenden des Kontinents.

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Einen anderen Preis zahlt möglicherweise die Umwelt. Jedes verschickte Paket, so rechnete die «Süddeutsche» einmal vor, verursacht im Durchschnitt 500 Gramm CO2. Wenn es zurückgeschickt wird, macht das schon ein Kilo des klimaschädigenden Stoffs.

Und retourniert wird massenhaft. 41 Prozent der aus dem Ausland bestellten Kleider und Schuhe wurden 2015 zurückgesandt. Der deutsche Online-Modeversand Zalando schickt rund 30'000 Pakete pro Tag in die Schweiz, wie der Branchenblog Carpathia errechnet hat. Damit würden etwa 12'000 Zalando-Pakete täglich die Schweiz wieder in Richtung Deutschland verlassen. Kurz: Täglich gehen 21 Tonnen CO2 allein auf das Konto von Zalandos Schweiz-Geschäft.

Onlinehandel als ökologischer Frevel? So einfach ist es nicht. Denn auch Einkäufe in Läden und Warenhäusern verursachen Emissionen: durch die Fahrten zum Laden und in Geschäft und Lager. Unbestritten ist: Retouren verschlechtern die Ökobilanz des Onlinehandels. Und wer mehrere Produkte bestellt, diese aber separat liefern lässt, trägt ebenfalls nicht zu einer guten CO2-Bilanz bei. Aber: «Eine allgemeingültige, pauschale Aussage zur Vorteilhaftigkeit des Online- und des stationären Handels aus Klimasicht auf der letzten Meile kann nicht getroffen werden», zeigt eine Studie der Universität St. Gallen.

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Der Kampf um die Hoheit im Onlinehandel wird auf der letzten Meile entschieden. Die Kunden wollen ihr Paket innert weniger Stunden vor der Tür. In Zukunft landen Frischprodukte vielleicht direkt im Kühlschrank. In den USA testet Amazon derzeit ein Modell, bei dem die Boten Zugang zur Wohnung bekommen. In der Schweiz kooperiert die Migros mit dem deutschen Start-up Emmasbox, das gekühlte Fächer für online gekaufte Lebensmittel bereitstellt, die Kunden mit einem Code rund um die Uhr bedienen können. UPS verdoppelt im nächsten Jahr seine Abholstationen: von 70 auf 140. Und die Post bastelt an einer Lieferdrohne.

Bis die Roboter übernehmen, tritt Mario Bill in die Pedale. Der Student arbeitet als Velokurier in einer Schweizer Stadt. Im richtigen Leben heisst er anders, denn: «Es ist ein Knochenjob, aber ich mag ihn. Nur mit den Arbeitsbedingungen bin ich nicht zufrieden.»

Bill fährt für Notime, eine Firma, die die Velokurierszene in der Schweiz in den letzten zwei Jahren mit einem neuen, einschlägig bekannten Modell gründlich durchgeschüttelt hat. Notime funktioniert ähnlich wie der Taxidienst Uber: als Technologieplattform, die ihre Aufträge über eine App abwickelt. Bis letzten September bezahlte Notime für seine Fahrer weder Sozialabgaben noch Ferienentschädigung oder Unfallversicherung. Erst als die Kuriere in Bern demonstrierten, erreichten sie kleine Verbesserungen. Mario Bill verdient jetzt knapp 21 Franken netto pro Stunde, Notime übernimmt die Sozialabgaben und die Unfallversicherung. «Erst vor ein paar Tagen erhielten die Kuriere den Bescheid, dass die Sozialabgaben jetzt immerhin rückwirkend ab Anfang 2016 abgerechnet werden.»

Pikett für zehn Franken pro Stunde

Ein Paket vom Bahnhof in ein Aussenquartier fahren, für einen lokalen Onlineshop Artikel innert einer Stunde zum Kunden bringen, abends mit der Thermostasche auf dem Rücken Pizzas und Nasigoreng ausfahren. An einem strengen Tag kommen schon mal 80 Kilometer zusammen.

Die 21 Franken pro Stunde bringt Mario Bill jedoch nur heim, wenn er tatsächlich fährt. Stand-by-Schichten, bei denen sich die Fahrer für kurzfristige Einsätze zur Verfügung halten müssen, werden mit gerade mal zehn Franken pro Stunde abgegolten. Wenn dann das Display des Handys mit einem Auftrag blinkt, hat Mario Bill maximal 20 Minuten Zeit für die Fahrt in die Zentrale, um den Rucksack mit dem Firmenlogo abzuholen.

Gesteuert werden die Einsätze über eine spezielle App. Einsatzzeit, Stopps pro Stunde, Anteil pünktlicher Lieferungen, Bewertungen durch Kunden: Die App registriert alles. Und greift im privaten Handy standardmässig auf alles zu, womit die Kuriere überwacht werden könnten: Speicher, Kamera, Mikrofon, Telefon, SMS, Kontakte, Standort des Kuriers. Man benötige die Daten, um Aufträge zuzuweisen und optimale Touren zu planen, sagt Mitgründer Philipp Antoni. Auf Kontaktdaten greife Notime nicht zu.

Mario Bill ist das letzte Glied in der langen Lieferkette des Onlinehandels. Wenn er Pakete austrägt, gelten für ihn die gleichen Regeln wie in der ganzen Lieferkette. Es geht um Tempo, Kontrolle, zufriedene Kunden. Damit diese noch mehr bestellen, die Maschine am Laufen bleibt. Modern Times eben.

Velokurier bei Notime

«Ein Knochenjob»: Der Velokurierdienst Notime arbeitet nach Uber-Vorbild.

Quelle: Marco Zanoni
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