13.06 Uhr, die Mittagspause ist eigentlich vorbei. Das Essen war gut, der Service auch – der Kellner liess sich mit der Rechnung aber etwas Zeit. Und jetzt streckt er das Kartenterminal hin mit der Auswahl, ob man ihm 5, 10 oder 15 Prozent Trinkgeld geben möchte. 

«Es kommt negativ rüber. Und zwar auf beiden Seiten des Kartenterminals.»

Nicola Andreossi, Chef de Service

Nicola Andreossi findet das «sehr amerikanisch». «Es kommt negativ rüber. Und zwar auf beiden Seiten des Kartenterminals», meint der 32-Jährige. Er arbeitet schon sein halbes Leben im Gastgewerbe. Zuerst in einem Hotel, dann saisonal in einer Badeanstalt im Sommer und im Winter in einer Bar, einem Club und in Restaurants in St. Moritz. Und schliesslich in verschiedenen Restaurants. Aktuell ist er Chef de Service im Restaurant Rosso, einem Zürcher Szenelokal.

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Immer mehr digitales Trinkgeld 

Immer mehr Menschen bezahlen ihre Rechnungen im Restaurant digital – also mit der Karte, dem Handy oder einer Smartwatch.

Darum wird auch das Trinkgeld immer häufiger digital gegeben. «Die internationalen Gäste bezahlten schon 2009, als ich meine Lehre anfing, nur mit Karte», sagt Nicola Andreossi aus dem Zürcher Rosso. «In den Badis kamen die Leute eher noch mit Bargeld an die Theke.»

Ein Trend, den auch Marcel Stadelmann gegenüber dem Beobachter bestätigt. Er forscht an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften zu Trinkgeld. Dazu befragte er mehrfach die Schweizer Bevölkerung. Im Jahr 2022 gaben 76 Prozent der Befragten das Trinkgeld in bar. 2025 waren es noch 69 Prozent. Das sei eine grosse Abnahme in kurzer Zeit, sagt Stadelmann. 

Nicola Andreossi, Chef de Service im Restaurant Rosso in Zürich fotografiert an seinem Arbeitsort plus Themenbilder Trinkgeld, Bezahlterminal, etc.

Bis zu einer Milliarde Franken Trinkgeld wird jährlich gezahlt.

Quelle: Boris Müller

Auf der anderen Seite des Kartenterminals

Die Höhe des Trinkgelds hänge auch vom Moment ab, erklärt Andreossi. «Beim Mittagsservice muss es schnell gehen. Die Leute runden einfach auf. Mal habe ich Glück, mal habe ich Pech.»

«Beim Mittagsservice muss es schnell gehen. Die Leute runden einfach auf. Mal habe ich Glück, mal habe ich Pech.»

Nicola Andreossi, Chef de Service

Insgesamt sei das Trinkgeld in den letzten Jahren etwas zurückgegangen. Vor allem in Betrieben, in denen man die Getränke selbst holen muss. «Das Schlangestehen strapaziert die Nerven der Gäste heute mehr als früher», erklärt er – und meint schmunzelnd: «Die goldenen Zeiten, in denen man mehr Trinkgeld als Lohn bekam, habe ich leider nie erlebt. Auch nicht in St. Moritz.»

Eine Milliarde Franken im Jahr

Der Bund schätzt, dass jährlich bis eine Milliarde Franken Trinkgeld gegeben wird. Die Zahl stammt von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider. Ihr Departement, das Eidgenössische Departement des Inneren (EDI), prüft aktuell, ob digitales Trinkgeld in Zukunft genauso wie der Lohn AHV-abgabepflichtig werden soll. Der Bund verspricht sich davon Mehreinnahmen von 20 bis 50 Millionen Franken. Für Gastronomieangestellte würde dies bedeuten, dass sie netto weniger Geld verdienten.

Im Gesetz steht bereits jetzt, dass Trinkgeld wie Lohn behandelt werden muss. Nur wenn die Höhe des Trinkgelds vernachlässigbar sei, dürfe es direkt ins Portemonnaie der Angestellten fliessen. Unter «vernachlässigbar» geht man von weniger als 10 Prozent des Lohns aus. Alles andere sei illegal, sagte zuletzt Thomas Geiser, emeritierter Professor für Arbeitsrecht der Universität St. Gallen, in der «Rundschau» von SRF. 

Im Gegensatz zum Bargeld taucht digitales Trinkgeld in den Büchern der Betriebe auf. Arbeitgeber können also nicht mehr behaupten, nicht zu wissen, wie viel tatsächlich fliesse. Vom Trinkgeld müssten deshalb laut Geiser Sozialversicherungsbeiträge abgezogen werden. Und auch die Arbeitgeber müssten diese Abgabe darauf zahlen – wie beim ordentlichen Lohn.

Komplett digital

In den Betrieben der Familie Wiesner rechnet man das Trinkgeld bereits jetzt via Lohn ab. Seit 1. Januar 2024 wird das Unternehmen komplett bargeldlos geführt.

Nicola Andreossi, Chef de Service im Restaurant Rosso in Zürich fotografiert an seinem Arbeitsort plus Themenbilder Trinkgeld, Bezahlterminal, etc.

Nicola Andreossi vom Rosso: «Ich selbst habe nach der Schicht meist so 20 Stutz in bar im Sack und zahle deshalb auch selber das Trinkgeld oft in Cash.»

Quelle: Boris Müller

«Es ist fair und transparent, das Trinkgeld als Lohn zu berücksichtigen.»

Manuel Wiesner, Co-Geschäftsführer Familie Wiesner Gastronomie

Man kann in den 30 Restaurants der Familie, zu denen etwa Nooch, Negishi oder die Outback Lodge in Zürich gehören, nur noch digital bezahlen. Im Durchschnitt verdienten die Serviceangestellten mit Trinkgeld 30 Prozent zum Lohn dazu, sagt Co-Geschäftsführer Manuel Wiesner zum Beobachter. «Es ist fair und transparent, das Trinkgeld als Lohn zu berücksichtigen.»

Mit dem Systemwechsel hat sich Wiesner in der Branche unbeliebt gemacht. Arbeitgebende sollten mit dem Trinkgeld nichts zu tun haben, für die Betriebe sei das Abrechnen zu teuer und zeitaufwendig, sind die gängigsten Argumente. Wenn Trinkgeld zum Bestandteil des Lohns würde, träfe das vor allem die Angestellten, sagt eine Sprecherin des Branchenverbands Gastrosuisse: «Den Mitarbeitenden bliebe netto weniger Lohn, weil sie höhere Abgaben und zusätzliche Steuern zahlen müssten.»

Verschiedene Arten von Trinkgeld kombiniert: Cash, eigene Eingabe und vorgegebene %-Eingabe im Bezahl-Terminal.

Immer weniger Gäste zahlen Trinkgeld in bar. 

Quelle: Boris Müller - Montage: Beobachter

«Im Kontext der AHV-Finanzierungsdebatte ist das Trinkgeld ein Nebenschauplatz.»

Philipp Zimmermann, Mediensprecher Unia

Zudem bestehe die Gefahr, dass manche Arbeitgebende Trinkgelder auf digitale Zahlungen verbieten würden. Denn wenn das Trinkgeld versteuert werden müsse, stiegen die Lohnnebenkosten. «Das führt unweigerlich zu Preissteigerungen», so die Sprecherin. 

Gewerkschaften befürchten Druck auf Löhne

Auch die Gewerkschaften befürchten, dass durch höhere Abgaben die Löhne sänken. Die Trinkgelder für die Finanzierung der AHV erfassen zu wollen, bedeute einen unverhältnismässigen Aufwand bei wenig Nutzen, erklärt Philipp Zimmermann, Mediensprecher der Unia. «Im Kontext der AHV-Finanzierungsdebatte ist das Trinkgeld ein Nebenschauplatz.»

Mit Gegenwind habe er gerechnet, aber er folge nur dem, was ihm der Bund mitgeteilt habe, sagt Gastronom Manuel Wiesner dem Beobachter. Restaurants käme eine strenge Umsetzung des bestehenden Gesetzes gar nicht so teuer. Er selbst zahle nur etwa eine halbe Million Franken mehr für die Sozialabgaben, seitdem er Trinkgeld als Lohnbestandteil behandle. Durch die Umstellung seien seine Mitarbeiterkosten um lediglich 0,4 Prozent gestiegen, so Wiesner.

Im Gegenzug seien seine Mitarbeitenden bei Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit besser geschützt und hätten im Alter eine höhere Rente. Die Löhne seien nicht gesunken, versichert Wiesner. 

Geht die Rechnung für alle Mitarbeitenden auf, also auch für Studenten und temporäre Mitarbeiterinnen, die vielleicht nur eine Saison im Betrieb arbeiten? Für ihn sei das eine Kulturfrage, sagt Wiesner. «Es gibt bestimmt Leute, die sich nicht bei uns bewerben, weil bei uns abgerechnet wird. Aber es gibt auch viele, die unseren Prozess schätzen.» 

«20 Stutz im Sack»

Dass ein Teil des digitalen Trinkgelds künftig in die AHV fliessen soll, findet Servicemitarbeiter Andreossi falsch. «Wir arbeiten alle im Niedriglohnbereich und verdienen deutlich weniger als den Schweizer Medianlohn. Um die AHV zu sanieren, gibt es bessere Möglichkeiten.» Die Begründungen der Befürworter erachtet er als fadenscheinig. 

«Ich selbst habe nach der Schicht meist so 20 Stutz in bar im Sack und zahle deshalb auch selber das Trinkgeld oft in Cash.» So tauche es weiterhin nirgendwo in einer Abrechnung auf. «Es bleibt so quasi im Schatten der Gastronomie – und ginge auch im Falle einer AHV-Abgabepflicht ganz an die Mitarbeitenden.»

Quellen