Vergangene Woche präsentierte der Bund aktualisierte Prognosen für die beiden grossen Sozialwerke. Während die AHV besser dasteht als erwartet, gerät die Invalidenversicherung (IV) in finanzielle Schieflage. Ein Grund dafür ist der starke Anstieg der Neurenten, vor allem bei Jugendlichen mit schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen. 

Der Bund rechnet mit einem Defizit von 300 Millionen Franken pro Jahr, rund 3 Prozent der jährlichen Ausgaben. Das Kapital der IV liegt schon jetzt unter der vorgesehenen Mindestgrenze. Dazu kommen rund 10 Milliarden Franken Schulden bei der AHV.

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«Die IV hat seit ihrer Gründung ein Finanzproblem», sagt Thomas Gächter zum Beobachter. Er ist Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich. Gächter fordert eine politische Grundsatzdebatte – statt die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und einfach die Rentenpraxis zu verschärfen. «Der heutige Arbeitsmarkt überfordert die Leute und macht sie krank. Wir müssen uns fragen, was die Invalidenversicherung leisten soll.» Wenn sich die Politik zur IV bekenne, müsse sie auch richtig finanziert werden.

Mehr Personal für Arbeitsintegration

Der Bundesrat hat das Problem anerkannt. Im Sommer hat er die Eckpunkte für eine neue IV-Revision festgelegt. Er will etwa prüfen, wie Jugendliche mit schweren psychischen Problemen besser in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Auch eine Zusatzfinanzierung zieht er in Erwägung.

Jüngst sorgte ein Vorschlag für Aufsehen, über den auch der Beobachter berichtete: IV-Renten sollen erst ab 30 Jahren gesprochen werden, um den Anreiz für die berufliche Eingliederung zu erhöhen. 

Sozialversicherungsexperte Gächter findet die Idee nicht schlecht. «Man darf junge Menschen nicht einfach aufgeben.» Um eine Zusatzfinanzierung komme man aber nicht herum. «Wenn man bei den Renten sparen will, muss man zuerst in die Arbeitsintegration investieren.» Die IV sei schwach aufgestellt, sie brauche mehr Personal, um die Leute beim Weg in den Arbeitsmarkt zu begleiten. Heisst: «Es wird so oder so teurer.»

Obligatorische Krankentaggeldversicherung gefordert

Junge Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, statt lebenslange Renten zu sprechen, dürfte auch in der Politik auf breite Zustimmung stossen. Eine verschärfte Rentenpraxis zugunsten der Arbeitsintegration hat jedoch Schattenseiten, wie eine Studie des Bundes aus dem Jahr 2020 zeigt: Wer es nicht schafft, landet vermehrt bei der Sozialhilfe. 

«Es ist weiterhin ein grosses Problem, dass viele Betroffene zu gesund für die IV, aber zu krank für den Arbeitsmarkt sind. Dann muss die Sozialhilfe einspringen», sagt Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Deshalb brauche es neue Modelle, um Jugendliche im Arbeitsleben zu halten. Er warnt aber: «Wenn die IV-Revision zur Sparübung wird, wirkt sich das direkt auf die Sozialhilfe aus.» Das spürten dann die Gemeinden und Kantone.

«Die IV kommt erst ins Spiel, wenn es zu spät ist.»

Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich

Aber wie lässt sich das verhindern? Sozialversicherungsexperte Gächter hat eine Lösung. «Die IV kommt erst ins Spiel, wenn es zu spät ist», sagt er und fordert deshalb eine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Nur so wisse die IV früh genug, wenn jemand aus gesundheitlichen Gründen über längere Zeit nicht arbeiten kann. Dann könnte sie die Leute wirksam zurück ins Arbeitsleben bringen.

Diese Forderung ist nicht neu. Derzeit ist im Parlament eine Motion der Mitte hängig, die eine obligatorische Krankentaggeldversicherung einführen will. Die Debatte zur IV-Sanierung dürfte hingegen erst noch richtig losgehen.