Der Nationalrat hat in seiner Sondersession mit 109 zu 68 Stimmen bei 16 Enthaltungen beschlossen, dass alle Schweizer Bürgerinnen und Bürger die gleichen politischen Rechte und Pflichten haben sollen – auch Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung.

Die Verfassung soll entsprechend angepasst werden. Wenn auch der Ständerat zustimmt, muss der Bundesrat eine Änderung der Bundesverfassung ausarbeiten. Der Bundesrat empfahl die Annahme der Motion.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Stimmrecht für 16’000 Betroffene

In der Schweiz sind derzeit rund 16’000 Personen mit einer geistigen Behinderung entmündigt. Aus diesem Grund dürfen sie weder abstimmen, wählen noch für politische Ämter kandidieren. Artikel 136 der Bundesverfassung besagt: Personen, die wegen «Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind», sind von der Ausübung politischer Rechte ausgeschlossen.

Befürworter der Motion sehen dies als Diskriminierung. Der Berner EVP-Nationalrat Marc Jost sprach in der Debatte von einer Regelung, die dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger widerspreche.

«Ich verstehe nicht, warum alle mitreden dürfen ausser mir.»

Lucrezia Fopp, Betroffene und Aktivistin

Der Zürcher SVP-Nationalrat Benjamin Fischer äusserte als Sprecher der Motionsgegner Bedenken hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der betroffenen Personen. «Man muss sich fragen, wer im konkreten Fall das Stimm- oder Wahlrecht für diese Menschen ausübt», warnte er vor möglichen Missbräuchen.

Die 76-jährige Aktivistin Lucrezia Fopp hat selbst eine geistige Beeinträchtigung. Im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» äusserte sie im Vorfeld ihr Unverständnis: «Ich verstehe nicht, warum alle mitreden dürfen ausser mir. Hat meine Stimme keinen Wert?»

Uno rügte die Schweiz

2014 unterschrieb die Schweiz die Behindertenrechtskonvention der Uno. Laut dieser sollen Menschen mit Behinderung die gleichen Rechte haben wie Menschen ohne Behinderung. 2022 rügte der verantwortliche Uno-Ausschuss die Schweiz: Sie werde wegen des Ausschlusses von Behinderten vom Stimm- und Wahlrecht der Konvention nicht gerecht.

Philipp Schüepp ist verantwortlich für Politik und Strategie bei Pro Infirmis und beschäftigt sich seit vier Jahren mit den Rechten von Behinderten in der Schweiz. Die Annahme der Motion ist für ihn ein bedeutender Schritt zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.

Sie sende ein Signal, das über die 16’000 Betroffenen mit kognitiven Beeinträchtigungen hinausgehe: «Es geht um eine Abkehr von der Vorstellung, dass man Menschen mit Behinderungen etwas nicht zutraut und sie an vermeintlichen Defiziten beurteilt.»