68 Opfer, davon 57 minderjährig, 30 Täter: Diese erschreckenden Zahlen bringt ein neuer Bericht über sexuellen Missbrauch in der Abtei Saint-Maurice im Unterwallis ans Licht. Verfasst wurde er von der Universität Freiburg und vom Neuenburger Staatsanwalt Pierre Aubert. Untersucht wurde der Zeitraum von 1960 bis 2024. 

Neben den bisher bekannten Fällen von sexuellem Missbrauch im Kloster und im angeschlossenen Internat tauchten rund 20 neue, bisher unbekannte Fälle auf – in Zeugenaussagen und in den Archiven. Die Rede ist von sexueller Gewalt, Kinderpornografie, wiederholten sexuellen Berührungen, Vergewaltigungen und erzwungenen Schwangerschaftsabbrüchen.

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Der Schutz der Institution Kirche ging über alles

Die Abtei hatte die Untersuchung in Auftrag gegeben, nachdem 2023 gegen den aktuellen Abt Jean Scarcella Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung bekannt geworden waren. 

Der Bericht stellt Scarcella und seinen Vorgängern ein schlechtes Zeugnis aus, was den Umgang mit sexuellen Übergriffen hinter den Klostermauern betrifft. Diverse aufgeführte Beispiele zeigen, dass die Äbte in vielen Fällen den Schutz der Institution Kirche über den Schutz der Opfer stellten. 

Exhibitionist durfte wieder Lehrer sein

Ein im Bericht geschilderter Fall fällt in die Zeit von Abt Henri Salina (im Amt von 1970 bis 1999). Ein Domherr wurde von einem Gericht wegen Exhibitionismus verurteilt. Die Abtei versetzte den Mann für vier Jahre an einen anderen Ort, nahm ihn danach aber wieder in Saint-Maurice auf.

Entgegen der Anweisung des Walliser Bildungsdepartements war der Domherr auch wieder als Lehrer tätig – wobei es prompt wieder zu sexuellen Übergriffen kam. Es ist einer von vielen Fällen. 

«Nach meiner Erfahrung mit der Abtei verstehe ich, warum die Leute Angst haben, zu reden.»

Mélanie Bonnard, Missbrauchsopfer und Kandidatin für den Prix Courage 2024

Wie schwer sich die Abtei Saint-Maurice mit dem Eingeständnis von Fehlverhalten ihrer Mitglieder tut, zeigt auch der Fall von Mélanie Bonnard. Sie war im Alter von zwölf Jahren von einem Chorherrn sexuell belästigt worden. Nach jahrelangem Schweigen erzählte sie ihre Geschichte 2023 in der Sendung «Mise au point» von RTS. Sie hatte den fehlbaren Priester zuvor im Beichtstuhl zur Rede gestellt und das Gespräch heimlich aufgenommen. Dafür wurde sie vom Beobachter für den Prix Courage 2024 nominiert. 

Mélanie Bonnard ist für den Prix Courage 2024 nominiert.

Saillon, VS
07.06.2024
©Andrea Zahler
KOSTENPFLICHTIG
 
Mélanie Bonnard
Die Bilder dürfen ausschliesslich im Zusammenhang über die Prix Courage Berichterstattung auch in anderen Medien v…

Sie hat nie eine Entschuldigung erhalten: Mélanie Bonnard, nominiert für den Prix Courage 2024 

Quelle: Andrea Zahler

Nach der Enthüllung berichtete RTS über zwei weitere Vorfälle, in die derselbe Priester involviert war. Dieser protestierte mit einem Hungerstreik gegen seine Suspendierung als Dorfpfarrer von Saint-Maurice – und wurde vom Bischof von Sitten wieder ins Amt eingesetzt. Erst aufgrund von Protesten aus der Kirchgemeinde trat er im Herbst 2024 zurück.

Prix-Courage-Nominierte Bonnard: «Keine Entschuldigung erhalten»

Mélanie Bonnard ist nicht erstaunt über die Zahl von 68 Opfern sexuellen Missbrauchs in der Abtei Saint-Maurice. Sie vermutet, dass es noch wesentlich mehr Opfer gibt: «Nach meiner Erfahrung mit der Abtei verstehe ich, warum die Leute Angst haben, zu reden. Die Macht der Kirche ist enorm.» Und solange Jean Scarcella der Abtei vorstehe, werde sich kaum viel ändern.

Eine Entschuldigung der Abtei hat Mélanie Bonnard bis heute nicht erhalten; im Gegenteil: Ein Treffen mit Abt Scarcella und dem Täter bei der Opferhilfestelle Cecar endete mit Misstönen: «Sie beschuldigten mich als Lügnerin. Obwohl ich dem Täter sagte, dass ich ihm verzeihe, weil ich meine Ruhe wolle.»

Abt Jean Scarcella hat 2024 aus Rom eine Rüge kassiert, als gegen ihn Vorwürfe der sexuellen Belästigung erhoben wurden. Nach einer unfreiwilligen Auszeit ist er seit letztem März wieder im Amt. Er war im Februar nach Rom gereist und hatte dort offenbar den zuständigen Präfekten von seiner Wiedereinsetzung überzeugt. Dessen Name: Robert Francis Prevost, seit kurzem besser bekannt als Papst Leo XIV.

Stellungnahme der Abtei

Die Abtei St. Maurice gestand an einer Pressekonferenz zu den Resultaten des Berichts ihre Fehler ein und drückte den Betroffenen der Missbräuche ihr Bedauern aus. Sie anerkannte, dass eine Kultur des Schweigens existiert habe, die Missbräuche ermöglicht und aufrechterhalten habe.

Um dies in Zukunft zu verhindern, habe der Abteirat einen Aktionsplan beschlossen. Dieser werde von einer Kommission für Governance-Beratung umgesetzt, die aus Fachleuten bestehen und von einem unabhängigen Laien geleitet werden soll. 

Quellen