Liebe Leserinnen und Leser

2024 ist Kafka-Jahr: Der Schriftsteller starb vor 100 Jahren. Ein Anlass, wieder mal in seinem Kopf zu stöbern. Und zu merken: Verdammt zeitgemäss, was der so gesagt hat. Franz Kafka, als Person ein komplizierter Charakter, beschrieb damals gesellschaftliche Phänomene, die gerade wieder schwer im Trend liegen. Zum Beispiel, was Beziehungen und Freundschaften anbelangt. Er selbst litt unter den Folgen von Ghosting, wie man heute sagen würde: Wenn ein Mensch, dem man noch so viel sagen möchte, plötzlich abtaucht und nicht mehr reagiert. «Ich warte auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen. Ich habe jeden Tag geschrieben … aber verdiene ich wirklich kein Wort?» So beklagte sich Kafka in «Briefe an Felice». Armer Tropf. 

Fies beim Ghosting ist ja: Es bleibt unausgesprochen, weshalb eine Freundschaft bricht. In anderen Fällen kann der Grund sehr handfest sein – eine Pandemie beispielsweise.

Die Geschichte der Woche

Meiner Kollegin Sarah Serafini ist passiert, was gemäss der deutschen Freundschaftsstudie von 2022 jeder und jede Fünfte erlebt hat: Sie hat einen engen Freund wegen Meinungsverschiedenheiten zu Corona verloren. Sarah und Daniel erlebten im Kleinen, was im Grossen während der Pandemie unsere ganze Gesellschaft durchschüttelte. Zwischen ihnen tat sich ein Graben auf, bloss weil sie unterschiedliche Ansichten zur Gefahr des Virus oder zum Covid-Zertifikat hatten. Reden war plötzlich nicht mehr möglich. Stattdessen Rückzug in die Schützengräben der eigenen Meinung.

Aber Sarah und Daniel, beide Mitte dreissig, haben sich aufgerappelt. Nach dreieinhalb Jahren Funkstille haben sie sich wieder getroffen. Und sich die Frage gestellt: Wie konnten wir uns nur so fremd werden? Sarah Serafini hat die Begegnung in einem Artikel aufgearbeitet. Die Reaktionen darauf zeigen ihr, dass es die Gräben immer noch gibt.

«Einige fanden, ich hätte meinem ‹Covidiot-Freund› die Kappe waschen müssen. Doch es gab auch jene, die sich verstanden fühlten. Die mir schrieben, auch sie hätten einen Bruder oder eine Freundin, mit denen sie sich während der Pandemie überworfen haben. Und nun dank meinem Text Hoffnung finden, sich wieder anzunähern.»

 

Hier geht es zur Geschichte.

Ausserdem

Der Sorgenmonitor 2024 untersucht, welche Themen der Schweizer Bevölkerung am meisten Kummer bereiten. Und der Beobachter schafft Abhilfe. Steigende Gesundheitskosten und hohe Mieten: Ihre grössten Sorgen – und unsere Tipps dazu. Jetzt lesen.

Wir starten ein Experiment. Wir sammeln alte Gutscheine und ignorieren das Ablaufdatum. Wie kulant zeigen sich die Anbieter? Selbstversuch: Kann ich abgelaufene Gutscheine einlösen? Jetzt lesen.

Ohne die Angehörigen würde das System der Psychiatrie zusammenbrechen. Ihre Selbsthilfeorganisation stellt sich jetzt neu auf. Betreuung von psychisch Erkrankten: Die Kraft der Familie. Jetzt Teil 1 lesen (mit Abo).

Die Angehörigen von psychisch Erkrankten sind Freunde – und zugleich Betreuer. Was sagen Profis aus der Psychiatrie dazu? Betreuung von psychisch Erkrankten: Angehörige spielen eine doppelte Rolle. Jetzt Teil 2 lesen (mit Abo).

Und die Neuigkeiten in der Redaktion

Ein Beobachter-Interview löst in Bundesbern aufwendige Abklärungen aus – mit möglicherweise weitreichenden Folgen: Die Bundesverwaltung klärt derzeit ab, ob die Schweiz einen «kulturellen Genozid» an den Jenischen verübt hat. (Wie es dazu kam, lesen Sie hier.)

Klingt krass, lässt sich juristisch aber gut begründen. Strafrechtsprofessorin Nadja Capus sagte dem Beobachter vor einiger Zeit im Interview: Die Verfolgung der Jenischen in der Schweiz «erfüllt den Tatbestand des Völkermords». Gemeint ist das Vorgehen der halbstaatlichen Organisation Pro Juventute, die bis 1972 mit der Aktion «Kinder der Landstrasse» jenischen Familien systematisch die Kinder wegnahm. Das Ziel war es, die jenische Kultur zu zerstören. Unser Redaktor, Yves Demuth:

«Das Beobachter-Interview zeigt, dass Journalismus wirkt. Die brisanten Ausführungen von Professorin Capus haben etwas Wichtiges in Gang gesetzt.»

 

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Soviel für heute

2024 ist übrigens nicht nur ein Kafka-, sondern auch ein Kant-Jahr – der Philosoph wurde vor 300 Jahren geboren. Und auch Immanuel Kant beschrieb persönliche Beziehungsabbrüche, wie sie zeitgemässer nicht sein könnten. Nachdem er 1802 seinen Diener Lampe nach vierzigjährigem Dienst entlassen hatte, notierte er: «Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.» Heute nennt man diese rigide Trennungspraxis Conscious Uncoupling.  

So viel für den Moment. Mehr von uns – dann wieder ganz gegenwärtig – gibt es nächste Woche, wenn Sie mögen.