Ukrainische Stimmen

Kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, besuchte der Beobachter in der Schweiz lebende Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie erzählten von ihren Gefühlen in einer Welt, die plötzlich auf den Kopf gestellt worden war. In dieser frühen Phase des Kriegs dominierten Angst, Trauer, Ohnmacht, Sorge, Wut – und Hoffnung. Die Hoffnung war, dass der Spuk schnell wieder vorbei sein würde.

Sie hat sich nicht erfüllt. Der Konflikt dauert an, ist zum erbitterten Abnutzungskrieg mit Zehntausenden Toten geworden. Bilder von Zerstörung, Tod und Flucht sind allgegenwärtig. Dazwischen schieben sich trotzig Impressionen vom Versuch, so etwas wie Normalität zu bewahren.

In Westeuropa, in der Schweiz fliegen den Menschen aus der Ukraine die Herzen zu. Sie sind in diesem Krieg die Opfer. Macht es das leichter, den Schrecken in der Heimat zu ertragen? Kann man sich an Krieg gewöhnen? Wir haben dieselben Personen wie vor Jahresfrist getroffen und ihnen erneut den Puls gefühlt.

Halyna Chop Muff: «Mein Cousin starb an der Front»

Die 34-Jährige lebt mit ihrer Familie seit sechs Jahren in Wauwil LU. Bei Kriegsbeginn flüchtete ihre Mutter in die Schweiz, Stiefvater und Brüder mussten in der Ukraine bleiben. Als Journalistin teilte Chop Muff Informationen auf Facebook und vernetzte Geflüchtete mit Helfern.

Mein Cousin Taras kämpfte an der Front. Jeden Tag schickte er meiner Tante eine SMS. Ein Pluszeichen, das hiess: «Ich bin noch hier.» Im Juli blieb das Plus aus. Taras war bei einer Explosion gestorben. Es fühlt sich noch immer surreal an. Bei der Beerdigung überreichte das Militär seinem zwölfjährigen Sohn eine Ukraineflagge und die Uniform des Vaters. Maksym hat durch den Krieg seine Kindheit verloren.

Vor einem Jahr war ich noch voller Hoffnung. Ich glaubte an ein baldiges Ende, ein Wiedersehen mit der Familie. Doch der Krieg liess auch mich erwachsen werden. Heute weiss ich: Es wird noch dauern. Wir müssen uns auf einen Marathon gefasst machen.

Der Kontraktowa-Platz in Kiew

Der Kontraktowa-Platz in Kiew

Quelle: Lesha Berezovskiy

Ich vermisse meine Heimat. Die Brüder, meine Freundinnen, den Schäferhund. Als Journalistin würde ich am liebsten in die Ukraine reisen. Als Mutter weiss ich, dass das nicht geht. Meine zwei Kinder brauchen mich. Meine Mutter, die im Winter bei mir wohnt. Wenn ich erst mal in ein Loch falle, komme ich da nicht mehr heraus.

Im Alltag muss ich funktionieren, das gelingt mir nicht immer. Kurz nach dem Tod meines Cousins sprach mich ein älteres Paar auf der Strasse an. Die beiden fragten, wieso die Ukraine ständig Propaganda gegen die Russen mache. Solche Kommentare schmerzen – und sie kommen nicht nur von Fremden. Eine Freundin schrieb mir auf Facebook, dass sich die Ukraine ergeben müsse, damit der Krieg nicht auf Europa übergreife. Ihre Quellen: russische Medien. Wir haben keinen Kontakt mehr.

Zum Glück sind das Ausnahmen. Es gibt in Wauwil eine sehr engagierte Whatsapp-Gruppe. Wir helfen Geflüchteten mit Dokumenten, vermitteln Kontakte, organisieren Wohnungen und Kleider. Wir tun alles, dass sie sich wohlfühlen. So gut das eben geht.

Sasha Volkov: «Alle wollen eine War-Life-Balance»

Der Krieg hat ihn in die Öffentlichkeit katapultiert. Plötzlich trat der 47-jährige IT-Berater an Demos, Podien und im Fernsehen auf – als genauer Beobachter seiner ukrainischen Heimat und scharfer Kritiker Putins. Sasha Volkov ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt seit über 20 Jahren in der Schweiz, heute in Lachen SZ.

In der Ukraine gibt es einen Spruch: Früher wollten alle eine Work-Life-Balance, heute ist es die War-Life-Balance. Seit Kriegsbeginn sind meine Tage extrem voll. Den Job bei der Swisscom, meine Familie, die ukrainische Gemeinde – das alles quetsche ich in 24 Stunden. Wie das geht? Ich trinke weder Alkohol noch Kaffee, sonst kann ich nicht schlafen. Ich mache viel Sport, das entspannt mich.

Es geht mir besser als vor einem Jahr. Damals standen die russischen Truppen in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt. Ich rechnete mit schlimmen Kämpfen rund um Kiew. Im Moment ist die Gefahr weniger akut. Das heisst aber nicht, dass der Krieg vorbei ist. Im Gegenteil: Wir müssen uns auf turbulente Monate gefasst machen.

Zerstörte russische Panzer auf dem Kiewer Michaelplatz

Zerstörte russische Panzer auf dem Kiewer Michaelplatz

Quelle: Lesha Berezovskiy

Vor kurzem fuhr ich mit einem Transporter in die Heimat. Mit im Gepäck: 100 gebrauchte PC-Bildschirme, eine Spende der Swisscom. Für Polizeistationen und Schulen, die geplündert wurden. Letztes Jahr reiste ich zweimal mit Pick-ups in die Heimat und liess die Autos für die Front zurück. Bei der Gelegenheit besuchte ich auch meine Eltern, die in der Nähe von Kiew wohnen. Sie haben sich an die Raketen gewöhnt. Zweimal mussten sie für mehrere Tage ohne Strom und Wasser leben.

Ich bin kein Optimist. Trotzdem gibt es Dinge, die mir Hoffnung geben: Transporte und Spenden sind inzwischen sehr gut organisiert. Schweizerinnen und Schweizer sind noch immer solidarisch und gut informiert. Sie wissen, dass der Krieg auch sie betrifft. Auch von den westlichen Ländern kommt Unterstützung – wir werden nicht alleingelassen.

Anastasiia Grynko: «Unsere russischen Freunde schweigen»

Die Kommunikationswissenschaftlerin lebt mit Mann und zwei Töchtern in Aarau-Rohr. Sie ist spezialisiert auf die Themen Krisen und Fake News. Seit Beginn des Kriegs wundert sich die 38-Jährige darüber, dass sich russische Freunde nicht mehr bei ihr melden.

In den ersten Wochen des Kriegs herrschte bei mir Ausnahmezustand. Ich las ständig Nachrichten, wir nahmen meine Mutter bei uns auf und den ältesten Sohn eines befreundeten Paars, das in der Ukraine geblieben war. Nun ist es etwas ruhiger. Meine Mutter lebt in einer eigenen Wohnung, der Junge ist mit seinen beiden Brüdern und dem später ausgereisten Vater bei einem älteren Ehepaar im Dorf untergekommen. Doch der Krieg wird nie Normalität sein. Junge Menschen aus meiner Familie und aus dem Freundeskreis wurden getötet.

Ich frage mich immer mehr: Warum protestieren die Russen nicht gegen ihr Regime? Es ist nicht nur Propaganda und Angst. Sie haben keine Erfahrung damit, ihren Willen durchzusetzen und demokratische Instrumente anzuwenden. Ganz anders die Ukrainer. Ich bewundere den Durchhaltewillen meiner Landsleute und staune, welche Kräfte es freisetzt, wenn man für seine Freiheit, Unabhängigkeit, Kultur und Sprache kämpft.

Nationales Kunstmuseum in Kiew mit verhüllter Statue

Nationales Kunstmuseum in Kiew mit verhüllter Statue

Quelle: Lesha Berezovskiy

Unsere russischen Freunde, die hier leben und Zugang zu allen Informationen haben, schweigen uns gegenüber bis heute. Entweder sind sie nicht bereit, Schuld anzuerkennen, oder sie sind mit dem Krieg einverstanden. Ich weiss nicht, was schlimmer ist.

Hier in der Schweiz ist die Hilfsbereitschaft um uns herum nach wie vor gross. Ich habe aber gelernt, dass Helfen gar nicht so einfach ist. Manche Gastfamilien sind an ihre Grenzen gestossen. Es war sogar für uns in der eigenen Familie nicht immer leicht. Die Zwillingsschwester meiner Mutter ist in der Ukraine geblieben. Meine Mutter sorgt sich ständig, ein emotionales Auf und Ab. Theoretisch kenne ich mich mit Krisenkommunikation bestens aus. Jetzt erfahre ich am eigenen Leib, was Krise bedeutet.

Russische Stimmen

Die Meinungen im Westen sind gemacht: Putins Russland ist der Täter. Der Angriff auf das Nachbarland hat das alte Bild vom bösen Russland neu befeuert. Auch Russinnen und Russen, die teils schon lange in der Schweiz leben, spüren die feindselige Stimmung ihrer Heimat gegenüber.

Der Beobachter hat vor einem Jahr mit russischen Männern und Frauen in der Schweiz gesprochen. Niemand von ihnen will diesen Krieg. Er hat auch ihre Gefühlswelt aus den Fugen gebracht – ihre Empfindungen sind ähnlich wie jene von Ukrainerinnen und Ukrainern: Unverständnis, Ohnmacht, Besorgnis. Dazu kommen Scham und Angst. Angst, weil man nicht mehr zurück nach Russland kann, wenn man sich hier öffentlich gegen Putin positioniert. Deshalb möchten sich nicht alle mit vollem Namen und Bild in der Öffentlichkeit zeigen.

Alexei K.: «Panzer aus Deutschland sind richtig»  

Der 46-jährige Ingenieur arbeitet als Projektmanager und lebt mittlerweile mit seiner Familie in Baden. Bei der ersten Begegnung vor einem Jahr sagte er: «Bis zum 24. Februar war ich stolz darauf, Russe zu sein. Jetzt schäme ich mich für meine Herkunft.»

Daran hat sich leider nichts geändert. Dieser Krieg muss aufhören, je schneller, desto besser. Wichtig ist, dass Putin nicht als Sieger hervorgeht, dass die alte Grenze zur Ukraine wiederhergestellt wird. Sonst denkt jeder Terrorist und Diktator auf dieser Welt, er könne es ihm gleichtun. Darum finde ich es auch richtig, dass Deutschland jetzt hochtechnisierte Panzer in die Ukraine liefert.

Es tut mir nicht gut, mich mit dem Krieg zu beschäftigen, es belastet mich zu sehr. Ich muss mich manchmal richtiggehend zwingen, mir die Bilder aus der Ukraine anzuschauen. Aber es ist notwendig, dass man sieht, wie Krieg wirklich ist, was er anrichtet, vor allem bei der Zivilbevölkerung. Der Krieg schadet auch Russland. Putin steckt zwar alles Geld in die Armee. Aber die Korruption ist so gross, dass die Streitmacht trotzdem eine Katastrophe ist. Teilweise haben die Soldaten nicht einmal zu essen. Schätzungen zufolge sollen bereits 180'000 russische Soldaten gefallen sein.

Blick auf den Majdan in Kiew, den Platz der Unabhängigkeit

Blick auf den Majdan in Kiew, den Platz der Unabhängigkeit

Quelle: Lesha Berezovskiy

Die russische Zivilbevölkerung leidet ebenfalls. Es gibt kaum inländische technologische Güter, und viele aus dem Ausland sind sanktioniert. Ein Grossteil der Industrie ist aus Russland abgezogen. Ein Beispiel: Die zivile Flugzeugindustrie liegt komplett still. Jetzt müssen alte Flugzeuge ausgeschlachtet werden, um kaputte Maschinen zu reparieren. Und das bereits nach einem Jahr Krieg.

Glücklicherweise erleben meine Frau, unsere beiden Kinder und ich keine Feindseligkeiten, weil wir Russen sind. Hierzulande verstehen die Menschen, gerade auch in meinem persönlichen Umfeld, dass auch Russen gegen den Krieg sein können. Viele meiner russischen Bekannten, Kollegen aus baltischen Staaten und auch ich unterstützen die Ukraine, via Hilfswerke oder auf andere Art.

Die meisten Russen, die ich hier kenne, sind gebildet und hinterfragen die russische Propaganda. Ich hatte auch Bekannte, die für den Krieg, für Putin sind. Aber diese Kontakte habe ich alle gelöscht.

Anastasia Frei: «Ich bin müde»

2010 verliess die heute 47-jährige Hutdesignerin Russland, um sich in Zürich mit ihrem Schweizer Mann in der Textilbranche zu etablieren. Seit Kriegsbeginn hofft Anastasia Frei, Dostojewskis Prophezeiung möge sich bald erfüllen: «Schönheit wird die Welt retten.»

Ich bin müde von diesem unsäglichen Krieg. Sonst hat sich im vergangenen Jahr an meiner Haltung und meinen Gefühlen nichts geändert. Ich war vorher Pazifistin und bin es noch immer. Krieg darf es nicht geben. Meine Hoffnung, dieses Drama möge bald vorbei sein und die Menschen in der Ukraine wie auch in Russland könnten wieder ein normales Leben führen, hat nie nachgelassen.

Schön wäre, es ginge mit dem Krieg gleich wie mit Covid: Lange stand diese Bedrohung im Vordergrund, hat uns beschäftigt oder geängstigt – dann ist sie plötzlich verschwunden, wie von Zauberhand weggeblasen. Unrealistisch, ich weiss, denn dieser Krieg wird grosse Wunden hinterlassen. Doch etwas Träumerei soll ja erlaubt sein, auch in dieser schweren Zeit, nicht wahr?

Krieg wird nie zum Alltag. Natürlich, der ganz grosse Schock der ersten Tage ist vorbei. Aber die kleinen Schocks kommen immer wieder. Wie die Bombardierung in Dnipro oder die Drohnenangriffe auf Russland. Über die Geschehnisse informiere ich mich am liebsten, indem ich mit Bekannten und Angehörigen rede. Ihren persönlichen Einschätzungen traue ich am meisten – mehr als den Medien.

Wegen Stromknappheit im Dunkeln: St.-Andreas-Kirche in Kiew

Wegen Stromknappheit im Dunkeln: St.-Andreas-Kirche in Kiew

Quelle: Lesha Berezovskiy

In der frühen Phase des Kriegs habe ich begonnen, vermehrt Analysen in den Zeitungen zu lesen. Damit habe ich aber bald wieder aufgehört. In der Berichterstattung geht es aus meiner Sicht zu sehr um das, was die Parteien trennt, statt darum, was sie wieder verbinden könnte. Die Polarisierung tut mir nicht gut.

In meinem privaten Umfeld, zu dem auch viele Ukrainerinnen und Ukrainer gehören, ist zum Glück alles intakt geblieben. Keine einzige Freundschaft ist zerbrochen. Das bedeutet mir enorm viel. Wir alle stellen uns seit dem ersten Tag die gleiche Frage: «Warum bloss?» Ich glaube, darauf werden wir nie eine Antwort bekommen.

Irina O.: «Wir haben keine Zukunft mehr»

Die Tourismusfachfrau lebt seit 13 Jahren in der Schweiz. Sie ist verheiratet und wohnt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Bern. Putin sei ein Verbrecher, der Krieg durch nichts zu rechtfertigen, sagte sie kurz nach Kriegsausbruch. Heute ist die 41-jährige Russin noch pessimistischer.

Momentan ist meine beste Freundin mit ihrer Familie bei uns zu Besuch, das Visum läuft aber bald ab. Sie wollen weg aus Russland, weil der Mann einberufen wurde. Er will aber nicht in den Krieg. Es ist schwer, aus Russland wegzukommen, wenn man nicht reich ist. Nur zwei meiner Freunde haben es geschafft, sich im Ausland etwas aufzubauen.

Meine Generation hat hart gearbeitet, wir haben uns etwas erschaffen. Nun haben wir keine Zukunft mehr, unsere Kinder auch nicht. Diesen Krieg hat Russland bereits verloren: seine Menschen, seine Kultur, seine Wirtschaft. Alles! Die Ukrainer haben einen Vorteil: Sie haben recht, das macht sie stark. Ich an ihrer Stelle gäbe auch nie auf. Es ist ihr Land.

Blick über das Quartier Podil in Kiew

Blick über das Quartier Podil in Kiew

Quelle: Lesha Berezovskiy

Ich habe Geschichte studiert und den Zerfall der Sowjetunion miterlebt, danach die Perestroika. Und den Tschetschenienkrieg, der Jahre dauerte. Auch der Ukrainekrieg wird Jahre dauern, da mache ich mir nichts vor. Es ist einfach schrecklich.

Als ich kurz nach Kriegsausbruch mit einer Wandergruppe im Wallis unterwegs war, fragte die Kellnerin in einem Restaurant, welche Sprache wir sprechen. «Russisch», antwortete ich. Sie sagte: «Ah, seid ihr Freunde von Putin?» In unserer Gruppe waren auch drei Menschen aus der Ukraine. Wir waren sprachlos. Sie hat es wohl als Witz gemeint – wir fanden es allerdings überhaupt nicht lustig.

Eine Freundin lebt seit 20 Jahren in der Schweiz. Ihr Hausarzt schrieb ihr, er wolle sie nicht mehr als Patientin, weil sie Russin sei. Wo bleibt da die Ethik?

Ich selber habe keinen Russenhass erlebt. Im Gegenteil: Der Rektor der Schule meiner zehnjährigen Tochter schrieb allen russischstämmigen Eltern einen Brief, wir sollten uns umgehend melden, wenn sich jemand uns oder unserem Kind gegenüber negativ äussern würde. Eine schöne Geste.

Eine Stimme aus Kiew

Putins Truppen standen vor Kiew, die Lage war desolat. Wie 70'000 andere Ukrainerinnen und Ukrainer flüchtete die Kulturjournalistin Kateryna Potapenko mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in die Schweiz. Seither schreibt die 28-Jährige für den Beobachter ein Tagebuch. In ihrem ersten Eintrag stand: «Jeden Tag wartet man naiv auf die Nachricht, dass der Krieg einfach so vorbei ist.» Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Potapenko kehrte im Sommer trotzdem zurück in die Heimat.

In Kiew finden zwar keine Kämpfe statt, aber der Krieg bestimmt auch dort das Leben. Zu Neujahr schrieb Kateryna Potapenko: «Die russischen Granaten sind nicht sehr zielgenau, die Trümmer fallen meist noch auf die Häuser. Es gibt in der Stadt keine sicheren Orte mehr.» Und doch versuche man, Normalität zu leben. Dazu gehörten auch Konzerte, Lesungen und Ausstellungen – sie bringen «Momente der Hoffnung».

Kateryna Potapenko in Kiew. «Als hätten alle beschlossen, ihr bestes Leben zu leben.»

Kateryna Potapenko: «Als hätten alle beschlossen, ihr bestes Leben zu leben.»

Quelle: Lesha Berezovskiy

Kultur ist für mich lebenswichtig. Doch in den ersten Monaten des Kriegs kam fast das ganze Kulturleben in Kiew zum Erliegen. Nicht nur wegen der Kämpfe und der Belagerung. Sondern weil alle die neue Realität erst einmal verdauen mussten.

Doch dann begannen alle allmählich aufzuwachen. Allein letzte Woche erhielt ich Einladungen zu einer Hochzeit, einer Geburtstagsfeier, einem Rockkonzert und einer Buchvernissage. Es scheint, als hätten alle beschlossen, ihr bestes Leben zu leben. Vor kurzem war ich bei einem Konzert in der Bar Squat 17b Yard Cafe.

Eine bekannte ukrainische Band sammelte Geld zur Unterstützung von Kriegsopfern. Ihre Lieder handeln vom Krieg. Und es ist das erste Album der Band, auf dem sie ukrainisch singt – und nicht mehr russisch wie früher. Viele Bands tun es ihr inzwischen gleich. Eine Freundin sagt, dass sie zu möglichst vielen Konzerten geht, weil man dort keine Sirenen und Explosionen hört. Zudem ist man nicht allein und bekommt eine Illusion von Sicherheit.

Im Squat 17b Yard Cafe in Kiew finden kulturelle Ver­anstaltungen statt

Im Squat 17b Yard Cafe in Kiew finden kulturelle Veranstaltungen statt

Quelle: Lesha Berezovskiy

In derselben Bar finden wöchentlich Kunstvorträge und Buchpräsentationen statt. Und Tagesdiscos – sie enden um 22 Uhr, damit alle noch Zeit haben, vor der Ausgangssperre nach Hause zu kommen. Der Eintritt ist immer frei, und es werden Spenden gesammelt, um Freiwillige zu unterstützen, Sanitäter, das Militär, den Wiederaufbau von durch Raketen beschädigten Häusern und anderes.

Die Verlagsbranche sprudelt förmlich über von neuen Namen und Büchern. Ein Schriftsteller stellte gerade eine Sammlung von Kurzgeschichten vor. Er betätigt sich als «Auto-Freiwilliger», kauft für das Militär Autos im Ausland und fährt sie an die Front. Die Präsentation fand in einem Theater statt, vor vollem Haus, wie bei einer Premiere. Ich kann mir nicht vorstellen, dass vor dem Krieg eine Buchvernissage ein so grosses Publikum gefunden hätte.

Ein anderer Autor stellte sein neues Buch vor – auf dem Umschlag ist ein Küchenschrank aus Borodjanka mit einem Porzellanhahn zu sehen, der an der Wand eines komplett zerstörten Hauses hängen blieb. Inzwischen ist er zum Symbol der ukrainischen Widerstandskraft geworden und wurde in ein Museum verfrachtet.

«All diese sozialen Aktivitäten lenken ab. Sie ermöglichen es, den Kopf mit anderem zu beschäftigen als mit den täglichen Sorgen, und man fühlt sich nicht allein.»

Kateryna Potapenko

Viele Dinge, die zu Symbolen geworden sind, befinden sich in den Sammlungen der nationalen Museen. Russische Uniformen oder Trockenrationen, Waffenteile und Raketen. Es gibt Ausstellungen, Filme, Bücher und Theatervorführungen über denselben Krieg, in dem man gerade lebt. Zuerst dachte ich, dass das niemand erleben will – aber die Nachfrage nach solchen Veranstaltungen ist enorm.

Unser Buchclub hat ebenfalls regen Zulauf. Wir mussten den Veranstaltungsort wechseln, weil wir jetzt mehr als 20 Leute sind. Seit September gehen wir zusätzlich zum gemeinsamen Zeichnen – wir skizzieren im Zoo, in Parks, auf den Strassen der Stadt, an interessanten Orten.

Vor kurzem waren wir in einem Gewächshaus. Damit man sich Heizgeräte für die Blumen leisten kann und bei Stromausfall keine seltenen Arten verloren gehen, gibt es dort Hochzeiten. Der Ort ist nun sehr beliebt, wir konnten kaum noch einen freien Termin finden.

All diese sozialen Aktivitäten lenken ab. Sie ermöglichen es, den Kopf mit anderem zu beschäftigen als mit den täglichen Sorgen, und man fühlt sich nicht allein. Vor kurzem konnte ich keine Karten für das Ballett kaufen, in dem eine Freundin von mir tanzt – alles war schon einen Monat vorher ausverkauft. Und es gab sogar Zusatzvorstellungen. Wenn Menschen während des Kriegs das Ballett so sehr brauchen, sind sie unbesiegbar.

Die Fotos

Fotograf Lesha Berezovskiy, 32, stammt aus der Region Luhansk. Sein Geburtsort ist nun unter russischer Besatzung, seine Grosseltern leben noch dort. Für den Beobachter hat er mit seiner Analogkamera Anfang Februar Szenen in Kiew festgehalten.

Fotograf Lesha Berezovskiy
Quelle: Lesha Berezovskiy
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