Ist die Schweizer Demokratie noch zeitgemäss? Nein, finden der frühere Bundesbeamte und höchste Finanzprüfer des Landes, Michel Huissoud, und der Politcampaigner Daniel Graf. Das Gesundheitssystem: zerfahren . Der Klimaschutz: zerfleddert im Kompetenzwirrwarr zwischen Bund und Kantonen. Das Wort «Internet» kommt in der aktuellen Bundesverfassung kein einziges Mal vor, kritisieren Huissoud und Graf.

Dafür steht in der Präambel «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Die Formulierung sorgt wegen der Trennung von Kirche und Staat immer wieder für Diskussionen. 

Viele Anliegen werden nie diskutiert

«Als Leiter der Finanzkontrolle habe ich Jahr für Jahr über Mängel in der Schweizer Verwaltung berichtet», sagt Michel Huissoud. Insbesondere in Bereichen der Digitalisierung gebe es grobe Defizite, doch der Bund ignoriere das Problem. «Er ist zum Teil besser über seine Beziehungen zu Mexiko informiert als über die Beziehung seiner Bundesämter zum Wallis», sagt Huissoud. 

Graf hat als Betreiber der Unterschriftensammel-Plattform Wecollect viele Initiativen begleitet. Sein E-Mail-Postfach sei voll mit wichtigen Anliegen aus der Bevölkerung – Graf nennt als Beispiel etwa die begleitete Sterbehilfe – die aber wegen des hohen Aufwands, den eine Initiative bedeutet, nie diskutiert würden. Solche Anliegen erhielten mit einer grundsätzlichen Neuformulierung der Bundesverfassung das Gehör, das sie verdienten.

Bevölkerung soll sich aktiv einbringen

Graf und Huissoud stellen darum am Sonntag, dem 17. September, in Bern ihre Initiative zur Totalrevision der Bundesverfassung vor. Das Projekt «Update Schweiz» soll einerseits das höchste Schweizer Regelwerk aktualisieren. Themen wie die Altersvorsorge, Klimaschutz oder die «wachsende Kluft zwischen Arm und Reich» sollen neu verhandelt werden, wie Graf sagt. Aber nicht nur das: Die Initianten erhoffen sich von der Kampagne auch eine Grundsatzdebatte über die Schweizer Demokratie.

Es ist ihnen wichtig, dass sich das aktive Einbringen nicht nur auf die Erneuerung der Bundesverfassung beschränkt, sondern auch auf den Prozess: Beim Treffen in Bern debattieren Referenten und Teilnehmerinnen in mehreren bereits ausgebuchten Workshops über Aspekte der Demokratie. Etwa der Antidiskriminierungs-Experte Tarek Naguib von der Aktion Vierviertel mit dem Zürcher SP-Politiker Islam Alijaj Ex-Prix-Courage-Kandidat neu im Gemeinderat «Zürich könnte zum Vorzeigebeispiel für eine inklusive Stadt werden» zum Thema «Inklusive Gesellschaft». Ein anderes Referat von Michael Jordi, Zentralsekretär der Gesundheitsdirektorenkonferenz, dreht sich um «Gesundheit und Föderalismus».

Graf und Huissoud hoffen, dass aus den 300 Gästen, die in Bern erwartet werden, ein Bürgerkomitee von rund 1000 Personen entsteht. So viele Leute bräuchte es, um die benötigten 100’000 Unterschriften zu sammeln, sagt Daniel Graf. Die Unterschriftensammlung startet im Frühling 2024. Ausserdem lancieren die Initianten ein Crowdfunding. Das Ziel: 150’000 Franken für die Kampagnenkasse, um Informationsmaterial bereitzustellen oder Räume für Bürgertreffs zu mieten.

Versprechen – oder Risiko mit unklarem Ausgang?

Eine Totalrevision der Bundesverfassung per Volksinitiative gab es noch nie. Dabei sind die Hürden, die Bundesverfassung mit diesem Instrument zu verändern, wegen Artikel 138 der Bundesverfassung gar nicht mal so hoch, wie man vermuten könnte. Anders als bei anderen Volksinitiativen braucht es nämlich lediglich ein Volksmehr – und kein zusätzliches Ja der Kantone. Das senkt die Hürde für eine Annahme.

Ob sich die Stimmbevölkerung auf das Experiment einlässt, ist allerdings fraglich. Denn die Initiative ist eine Blackbox. Mit einem Ja kommt es zu einer Auflösung von National- und Ständerat sowie zu Neuwahlen. Das neue Parlament würde dann die neue Bundesverfassung erarbeiten. Über diesen Verfassungsentwurf würde dann noch einmal abgestimmt. Laut Graf würde die Schweiz bei einem Zustandekommen der Initiative im Jahr 2026 über die Frage abstimmen: «Will die Schweiz eine neue Verfassung?»

Demokratie auf dem Prüfstand

Huissoud und Graf sind nicht die einzigen, die im Jubiläumsjahr der Bundesverfassung über eine Erneuerung der Demokratie nachdenken. Der frühere Zürcher Justizdirektor Markus Notter (SP) und die ehemalige Co-Chefin von Operation Libero, Laura Zimmermann, präsentierten im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» die Idee einer dritten Kammer. Für diesen sogenannten Zukunftsrat sollen Stimmberechtigte Bürgerinnen und Bürger nach einem repräsentativen Schlüssel im Losverfahren ausgewählt werden. 

Das Ziel lautet auch hier, die politische Debatte einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen Immer weniger Stimmberechtigte Herrschaft des halben Volkes . Damit die dritte Kammer nicht im luftleeren Raum agiert, hat sie auch Kompetenzen: Sie kann gegen Beschlüsse von Stände- und Nationalrat ein Veto einlegen. Das Veto kann wiederum mit qualifiziertem Mehr vom Parlament überstimmt werden. Notter und Konsorten erhoffen sich von einer solchen dritten Kammer eine «höhere Repräsentabilität» der Bevölkerung. Die Mitglieder könnten zudem ungezwungener entscheiden, weil sie sich nicht um eine Wiederwahl bemühen müssten. 

Ein weiterer Vorschlag kommt von der Demokratie-Denkfabrik Pro Futuris, einem Projekt der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Sie hat Anfang September einen «Zukunftsrat» einberufen. 80 ausgeloste junge Erwachsene zwischen 16 und 24 Jahren diskutieren in diesem Gremium über ein zukunftsrelevantes Thema – dieses Mal ging es um psychische Gesundheit –, das sie dann in die Öffentlichkeit tragen. 

Politik und die Zukunft: Das Vertrauen bröckelt

Und das Forschungsinstitut GFS Bern ging im Auftrag der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft der Frage nach, wie zufrieden die Bevölkerung mit der heutigen Demokratie Die Schweiz ist top aber nicht am besten Warum Schweden die bessere Demokratie ist ist. Über 6000 Personen, darunter auch solche ohne Schweizer Pass und Jugendliche ab 14 Jahren, wurden zu ihrer Haltung zur Schweizer Demokratie befragt. Demnach ist zwar eine überwiegende Mehrheit mit den demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten eher zufrieden bis sehr zufrieden

Der Blick in die Zukunft ist aber weniger positiv: Nur knapp die Hälfte der Befragten glaubt, dass die Politik die Herausforderungen der Zukunft bis 2050 meistern kann, etwa die Probleme in der Gesundheitspolitik, der Altersvorsorge oder mit dem Klimawandel. Daniel Graf interpretiert dieses Resultat so: «Wenn das Parlament nicht in der Lage ist, Antworten auf die brennenden Probleme zu geben, braucht es einen Impuls aus der Zivilgesellschaft.»