Niesen, schniefen, kratzen, husten, keuchen – auffallend viele Menschen leiden darunter. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts Allergien noch selten waren, sind mittlerweile 150 Millionen Europäerinnen und Europäer betroffen. Eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht haben dürfte. Laut Schätzungen der European Academy of Allergy and Clinical Immunology (EAACI) wird bis 2025 die Hälfte aller Frauen und Männer in Europa an einer Allergie leiden.

In der Schweiz zeigt sich eine ähnliche Situation wie in anderen Industrieländern: Bei 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung sind schon einmal allergische Symptome aufgetreten, etwa 35 Prozent weisen eine erhöhte Anfälligkeit auf. Während die Pollenallergie mit 1,7 Millionen Betroffenen die häufigste allergische Erkrankung ist, leidet jedes fünfte Kind in den ersten Lebensjahren an Neurodermitis Neurodermitis Kratzen bis es blutet . Im Jahr 2015 mussten aufgrund von starken allergischen Reaktionen siebenmal so viele Europäer ins Spital eingewiesen werden wie noch zehn Jahre zuvor.

Lebensstil: Macht Sauberkeit krank?

Wer nach den Gründen für den rasanten Anstieg fragt, kommt zu einem ernüchternden Schluss: Die Wissenschaft sucht noch immer nach Erklärungen. So manche Studie, die einen eindeutigen Auslöser propagiert, wird nach kurzer Zeit widerlegt. So gibt es anstelle klarer Antworten eine Vielzahl von Theorien, die die Verschlechterung unserer Immunabwehr erklären wollen.

Eine der bekanntesten ist die Hygiene-Hypothese: Vor bald 30 Jahren fand der britische Epidemiologe David Strachan heraus, dass Infektionen in der frühen Kindheit dafür sorgen, dass später weniger Allergien auftreten. Besonders gut geschützt waren Kinder mit vielen Geschwistern, da sich in grossen Familien auch Bakterien in einer grösseren Varianz tummeln. Schon bald zeigten weitere Studien, dass ein Wandel unserer Lebensweise mitschuldig am Anstieg der Allergien ist: sauberes Trinkwasser, tägliches Duschen, Händewaschen Hygiene «Desinfizieren ist Blödsinn!» , kleinere Lebensgemeinschaften.

Unser Immunsystem kommt vor allem in der frühen Kindheit mit immer weniger Antigenen von bakteriellen, parasitären und viralen Erregern in Kontakt. Dabei wäre dies ein wichtiges Training, bei dem der Organismus lernt, Allergene zu bekämpfen oder zu tolerieren. Je «sauberer» eine Gesellschaft, desto grösser das Risiko, eine Autoimmunerkrankung oder Allergie zu entwickeln – so die «Hygiene-Hypothese», wie man sie fortan nannte.

Tatsächlich stützen Studien den Befund, dass immunologische Erkrankungen häufiger in industrialisierten Ländern auftreten. So leidet im Westen jedes zehnte Kind bereits vor dem Schuleintritt an einer Lebensmittelintoleranz, in China sind es nur zwei Prozent der Kinder im selben Alter.

Ganz so einfach ist die Erklärung aber doch nicht. In den vergangenen Jahren setzten sich einige Wissenschaftler dafür ein, den Begriff Hygiene-Hypothese wieder abzuschaffen. Viel zu stark suggeriere er, dass eine laschere Hygiene wünschenswert sei. Dabei begünstigt die laschere Hygiene Infektionskrankheiten und andere Erkrankungen. Obwohl ein Zusammenhang zwischen Hygiene und Allergien bewiesen ist, sollte dieser nicht überbewertet werden. Denn neue Studien zeigen, dass ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren bestimmt, wie anfällig wir für Allergien sind.

Umwelt: Bakterienreichtum hilft

Bauernhofkinder haben nicht weniger Allergien, nur weil sie mehr Dreck ausgesetzt sind. Denn sie wachsen häufig mit Geschwistern auf, kommen mit Tieren in Kontakt, sind weniger Luftverschmutzung ausgesetzt und trinken öfter Rohmilch – alles Faktoren, die sich günstig auf das Immunsystem auswirken. Trotzdem muss laut Philippe Eigenmann von der Unité d’allergologie pédiatrique am Universitätsspital Genf nicht jedes Kind auf dem Bauernhof aufwachsen: «Wichtig ist einzig, Kindern einen Zugang zu einer möglichst vielfältigen Bakterienwelt zu gewähren – ob auf dem Land oder in der Stadt».

Je bakterienreicher eine solche Umgebung ist, desto vielfältiger ist das Mikrobiom, die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Menschen besiedeln.

Auch die Klimaveränderung hat einen Einfluss auf den Allergieanstieg: Je wärmer es wird, desto länger dauert die Pollensaison Hatschi! Die Pollen fliegen – 10 Tipps, was Sie gegen Heuschnupfen tun können . Ausserdem führen Kohlendioxid, Staubpartikel und Ozon zu einem aggressiveren Pollenflug – gerade an Strassenrändern, wo Stickstoffdioxid zu Stressreaktionen bei Pflanzen führt. Wer in solchen Gebieten wohnt, muss aber nicht unbedingt an einer Pollenallergie erkranken. Das Erkrankungsrisiko kann sich durch eine hohe Allergenexposition sowohl verringern als auch erhöhen.

Die häufigsten Allergieauslöser

Allergien entstehen erst nach wiederholtem Kontakt mit einem Auslöser (Allergen). Derzeit sind rund 20000 mögliche Allergene bekannt. An diesen Allergien leiden die Menschen am häufigsten:

Die häufigsten Auslöser für Allergien.
Quelle: Andrea Klaiber und Anne Seeger
Genetik: In der Wiege fängt es an

Neben Lebensstil und Umwelt spielt auch die Genetik eine wichtige Rolle. Das Risiko, eine Allergie zu entwickeln, wird uns bereits in die Wiege gelegt: Sind Mutter und Vater von derselben Allergie betroffen Allergien Vererbt, verhasst und oft verwechselt , erkrankt ihr Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 bis 80 Prozent. Leiden beide Elternteile an unterschiedlichen Allergien, sind es rund 50 Prozent, bei einem allergischen Elternteil 20 Prozent. Wenn ein Geschwister bereits allergisch ist, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 25 bis 35 Prozent. Ohne eine familiäre Vorbelastung entwickelt ein Kind nur in 5 bis 15 Prozent der Fälle eine Allergie. Eine erbliche Veranlagung ist zum Beispiel bei Heuschnupfen, Neurodermitis, Nesselsucht, Bronchialasthma und allergischer Bindehautentzündung bekannt.

Schon während der Schwangerschaft wird das Immunsystem gebildet. Dann versorgt die Mutter ihr Kind über die Plazenta mit bakteriellen Stoffwechselprodukten. «Es ist inzwischen belegt, dass das Mikrobiom der Schwangeren im Darm hochrelevant für die Entwicklung des kindlichen Immunsystems ist», erklärt Daniel Surbek, Chefarzt Geburtshilfe am Inselspital Bern. Jede Veränderung der Darmflora – etwa durch Antibiotika oder eine Ernährungsumstellung – kann über Stoffwechselprodukte Auswirkungen auf das Immunsystem des Fötus haben.

Auch erhärtet sich der Verdacht, dass Plazenta und Fötus entgegen früheren Forschungsresultaten gar nicht steril sind. Es kann also durchaus sein, dass ein Baby bereits vor der Geburt mit wenigen Bakterien in Berührung kommt. Wenn das der Fall ist, könnten Forscher Wege finden, Allergien und Asthma durch eine Beeinflussung des Mikrobioms abzuwenden.

Sind Kaiserschnittkinder anfälliger auf Allergien?

Eine viel grössere Bakterienbesiedlung erfolgt bei der Geburt. Im Geburtskanal kommen Babys mit Vaginal- und Darmbakterien der Mutter in Berührung. Bei einem Kaiserschnitt hingegen tummeln sich zwar ebenfalls viele Bakterien, dabei handelt es sich aber vor allem um Bakterienspezies der Haut. Lange schien die Forschung darauf hinzudeuten, dass Kaiserschnittkinder aufgrund der unterschiedlichen Bakterien anfälliger für Allergien, Asthma und Diabetes seien. Ein direkter Zusammenhang ist aber schwer nachzuweisen.

«Neuste Studien zeigen, dass sich das Mikrobiom von vaginal oder per Kaiserschnitt geborenen Kindern nur ganz kurze Zeit unterscheidet. Nach sechs Wochen ist bereits kein signifikanter Unterschied mehr zu erkennen», erklärt Gynäkologe Surbek. In dieser Zeit werde das Mikrobiom einzig durch die Umgebung geprägt, zum Beispiel durch den Hautkontakt mit der Mutter oder durch das Stillen. «Doch auch bei solch förderlichen Massnahmen ist noch nicht klar, wie stark sie das spätere Immunsystem wirklich prägen.»

Babys mit Bakterien «impfen»

Medizinische Studien zeitigen mitunter rasch Folgen. So entwickelte sich das «Seeding», weil man den Kaiserschnitt für immunologische Defizite verantwortlich machte. Dabei wird der Frau vor der Geburt ein Stück Gaze in die Vagina eingeführt, damit sich Bakterien darauf sammeln. Ist das Baby da, zieht ihm die Hebamme die Gaze durch den Mund und streift sie über seinen Körper.

«Es gibt kein grösseres Infektionsrisiko durch das Seeding.»

Thomas Prätz, Chefarzt Gynäkologie am Kantonsspital Nidwalden

In der Schweiz gehörte das Kantonsspital Nidwalden zu den ersten Krankenhäusern, die Schwangeren die Behandlung empfahlen. Andere reagieren zögerlicher: «Ohne Studie mit Segen einer Ethikkommission sollten solche experimentellen Methoden nicht durchgeführt werden», erklärt etwa der Berner Chefarzt Daniel Surbek. «Durch Seeding wird das Baby einer grösseren Menge an Bakterien ausgesetzt, und das Infektionsrisiko steigt.» Die Verantwortung müsse bei den Müttern liegen. In Nidwalden teilt man die Bedenken nicht: «Die Infektionsrisiken des Seedings sind dieselben wie bei einer vaginalen Geburt», sagt Thomas Prätz, Chefarzt Gynäkologie.

Die anfängliche Euphorie wurde inzwischen etwas gebremst: «Der erhoffte Effekt ist laut neueren Studien doch nicht so einfach zu erreichen», räumt Prätz ein. Ob die Technik einen nachhaltigen Effekt auf das Immunsystem hat, müssen Langzeitstudien erst noch zeigen. Trotzdem führt Prätz auf Patientinnenwunsch ein Seeding nach wie vor durch. «Das Thema bleibt hochinteressant – die Forschung dazu ist noch lange nicht abgeschlossen.»

Wechselspiel von Faktoren

Eine Allergie kann also kaum auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden – vielmehr ist ein komplexes Zusammenspiel von Genetik, Lebensstil und Umwelteinflüssen dafür verantwortlich. «Ob man schon eine Allergie hat oder noch bekommt, kann man leider nicht massgeblich beeinflussen», fasst Allergologe Philippe Eigenmann zusammen. Eine Wunderlösung sei noch nicht gefunden, darum wird noch immer intensiv nach Präventionsmöglichkeiten geforscht.

Hilft ein Gewitter gegen Heuschnupfen?

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Ein Gewitter kann für Pollenallergiker ganz schön gefährlich werden. Ärztin Claudia Twerenbold erklärt im Video, warum.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
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