Beobachter: Frau Thoma, gehören Schmerzen ab einem bestimmten Alter einfach zum Leben?
Myriam Thoma
: Ja und nein. Zu behaupten, alle älteren Menschen hätten Schmerzen, ist definitiv falsch. Tatsächlich steigt aber mit dem Alter das Risiko für viele Krankheiten und damit auch für Schmerzen.

Von welchem Alter reden wir da?
Die WHO definiert Alter als die Jahre ab 65. Wenn es um chronische oder altersbedingte Krankheiten geht, beginnt es hingegen meist erst ab dem 70. oder 80. Lebensjahr. Verallgemeinern lässt sich das aber nicht. Das Alter ist sehr heterogen. So hat nicht nur jede Person ganz unterschiedliche Beschwerden, sondern man geht auch anders damit um.

Ab wann spricht man von chronischen Schmerzen?
Wenn Schmerzen länger als drei Monate dauern oder in diesem Zeitraum immer wieder auftreten.

Was sind die häufigsten Ursachen?
So viel vorweg: Chronische Schmerzen sind nie nur körperlich. Sie entstehen aus einem Zusammenspiel von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren. Das muss auch in Behandlungen berücksichtigt werden. Medizinisch gibt es sehr viele mögliche Ursachen. Bei älteren Menschen sind es häufig Probleme mit dem Bewegungsapparat, es können aber auch Krankheiten sein wie zum Beispiel Diabetes, Arthritis, Osteoporose oder Krebs.

Welche Rolle spielt die Psyche?
Betroffene leiden oft sehr stark unter den Schmerzen. Sie haben häufig das Gefühl, ihnen ausgeliefert zu sein und nichts dagegen unternehmen zu können. Oft haben sie auch Angst, dass sie ihre Selbständigkeit verlieren, oder befürchten, der Schmerz könnte sich verschlimmern. Das führt dazu, dass sie gewisse Dinge vermeiden, weniger aktiv werden und sich aus dem sozialen Leben zurückziehen. Das verschlechtert ihre Situation meist zusätzlich.

Wie durchbricht man den Teufelskreis?
In einem ersten Schritt sollte man über die Schmerzen reden und sich professionelle Hilfe suchen. Dann ist es wichtig, trotzdem aktiv zu bleiben, und man sollte versuchen, ein Stück weit die Kontrolle zurückzugewinnen. Helfen kann dabei ein Schmerztagebuch. So erkennt man, in welchen Situationen die Schmerzen besonders akut oder eher weniger stark sind, und lernt dadurch, die Schmerzen selber etwas zu beeinflussen.

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Dem Schmerz die Stirn bieten
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Wie gelingt es, trotz chronischen Schmerzen aktiv zu bleiben?
Man sollte das machen, was möglich ist. Das kann allerdings bedeuten, dass man sich neu orientieren muss. Wer unter starken Knieschmerzen leidet, kann nicht mehr jedes Wochenende wandern. Stattdessen könnte man schwimmen gehen. In einigen Situationen können Hilfsmittel wie ein Rollator einen dabei unterstützen, mobil zu bleiben. Manchmal hilft auch gezieltes Krafttraining, um die Muskulatur zu stärken und sich wieder sicherer zu fühlen.

Und wie bewahrt man die Lebensfreude?
Man muss lernen, die Schmerzen zu akzeptieren. Das heisst nicht, dass man sie gutheissen soll, und schon gar nicht, dass man sie passiv hinnimmt. Es heisst nur, dass man sie als Ausgangslage annimmt. Denn der ständige innere Kampf und die immer gleiche Frage «Wieso habe ich diese Schmerzen?» rauben viel Energie. Energie, die man besser nutzen sollte, um seinen Fokus neu zu setzen und auf das zu richten, was noch geht. Statt auf das Negative sollte man auf Dinge fokussieren, die einem Freude bereiten, und Situationen schaffen, die einem guttun, wie zum Beispiel die Enkelkinder hüten, in der Natur spazieren oder sich mit Freunden treffen.

Welche Therapien helfen bei chronischen Schmerzen?
Im besten Fall kombiniert man mehrere Methoden. Neben gezieltem Krafttraining können zusätzliche Therapien wie Massagen, Wärme- oder Ergotherapien oder auch Atem- und Entspannungsübungen zum Einsatz kommen. In Psycho- oder Schmerztherapien können Betroffene lernen, mit ihren Schmerzen umzugehen. Auch Medikamente können Teil der Therapie sein. Sie sollten aber nie die einzige Behandlungsmethode sein.

Wie findet man für sich das richtige Paket?
Am besten lässt man sich vom Hausarzt oder von einer Fachärztin beraten. Es gibt aber auch Schmerzzentren oder Therapeutinnen und Therapeuten, die auf chronische Schmerzen spezialisiert sind.

*Myriam Thoma, 42, ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin und Forscherin am Psychologischen Institut der Universität Zürich.

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