Ansehen kann man Ella* das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom nicht, nicht einmal nackt könnte man das. Das lange Wort bedeutet: Ella kam ohne Gebärmutter und Vagina auf die Welt. Die Krankheit ist selten. Geschätzt eine von 4500 Frauen weltweit ist betroffen, in der Schweiz gibt es zwischen 200 bis 900 Fälle. Ella ist 19 und führt in Zürich ein normales Studentenleben. Im Alltag lässt sich das Syndrom sehr gut ignorieren, auch sie selbst bemerkt es kaum. Sie lächelt: «Ich meine, wer vermisst schon seine Tage Prämenstruelles Syndrom Die Tage vor den Tagen

Mit 15 tat sie das noch. Damals ahnt sie von ihrer Anomalie nichts. Aber weil sie noch keine Blutung hat, fragt sie ihre Mutter, ob das normal sei. Die Mutter nimmt sie mit zu ihrer Frauenärztin. Diese untersucht sie, macht einen Ultraschall, und winkt dann aber ab: Sie sei einfach etwas spät dran.

Ein halbes Jahr später hat Ella ihre Tage noch immer nicht. Eine andere Frauenärztin untersucht sie und hat eine erste Vermutung. Sie verordnet Ella Hormonpillen. Die muss sie über zehn Tage einnehmen, was normalerweise eine Blutung auslöst. «Am Anfang habe ich mir noch wenig Gedanken gemacht, aber die letzten der zehn Tagen waren wirklich schlimm für mich. Weil da immer klarer wurde, dass etwas definitiv nicht stimmt.» Als bis zuletzt nichts passiert, wird eine Magnetresonanztomografie von ihrem Bauch gemacht. Daraufhin ist die Diagnose klar: Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser- oder kurz MRKH-Syndrom.

Eine Laune der Natur

Ellas Mutter macht sich Vorwürfe, sucht in ihren Schwangerschaftstagebüchern nach einem möglichen Fehler von ihr. Doch der Mutter ist nichts vorzuwerfen: die Ursachen des Syndroms sind unklar. Klar ist, dass es zwischen der siebten und achten Schwangerschaftswoche zu einer Störung in der Zellentwicklung kommt. Dann sollten sich zwei Gewebestränge im Bauch des Embryos, die sogennanten Müllerschen Gänge, miteinander verbinden, öffnen und so die Vagina und den Uterus bilden. Das passierte bei Ella nicht. Eine Laune der Natur.

Die Teenagerin kann nach der Diagnose mit niemandem darüber sprechen. Ihre Mutter will sie nicht noch mehr belasten. Mit ihrem Vater hätte sie gerne darüber gesprochen, weiss aber nicht wie. Ihrem Bruder sagt sie vorerst nichts, er weiss bis heute nichts von dem Syndrom, obwohl sie eigentlich ein gutes Verhältnis haben.

Ella verdrängt das Ganze erst mal und macht einen Sprachaufenthalt Sprachaufenthalt planen Fremdsprache lernen leicht gemacht . Von Jungs will sie ein halbes Jahr lang nichts wissen. «Ich dachte, mir fehlt einer dieser definitiv weiblichen biologischen Blöcke.» Sie vergleiche die Weiblichkeit mit einer Pyramide: «Für mich sind das Äussere, das Verhalten und die Mimik die Basis der Weiblichkeit, darauf kann man dann aufbauen. Und ich hatte das Gefühl, dass meine Basis ein Loch hat. Ein Loch, um das herum ich bauen konnte, das ich aber nicht reparieren kann.»

MRKH zu diagnostizieren ist nicht einfach

Ikbale Siercks ist Oberärztin an der Frauenklinik des Kantonsspitals St. Gallen und in einer privaten Klinik für Reproduktionsmedizin. Sie betreut sechs Frauen mit dem MRKH-Syndrom. «Die Diagnose ist für die jungen Frauen und auch ihre Eltern ein Schock. Wichtig sind dann Einfühlsamkeit und eine gute Nachsorge.» Sie bietet dafür separate Sprechstunden an und vermittelt manchmal auch den Kontakt zu Psychotherapeuten.

Dass bei Ella das Syndrom lange nicht erkannt wurde, erstaunt Siercks nicht. «Die Diagnose ist nicht so einfach, da eine ausbleibende Blutung sehr viele Ursachen haben kann und Frauenärztinnen bei Jungfrauen sehr vorsichtig sind und regulär keine vaginalen Untersuchungen durchführen.» Bei einem Ultraschall sei die Gebärmutter zudem nur bei gefüllter Blase sichtbar, und auch dann manchmal nicht gut abgrenzbar. Neben der fehlenden Blutung können auch Symptome wie Nierenbeschwerden oder in seltenen Fällen auch Anomalien an der Wirbelsäule auf MRKH hinweisen.

Fehlende Vagina kann nachgebildet werden

MRKH bedeutet nicht: kein Sex. Die Vulva mit der Klitoris und all ihren Nerven ist da, nur die Vagina muss entweder durch Selbstdehnung oder eine Operation entstehen. Bei den operativen Verfahren schaffen die Ärzte entweder einen Hohlraum, der aber in vielen Fällen mit der Zeit wieder schrumpft, oder es wird Darmgewebe verpflanzt, was aber für den Körper eine grosse Belastung ist. Alle diese Therapien werden von der Krankenkasse bezahlt.

Ella hat Glück, ihr Gewebe ist für die Selbstdehnung geeignet. Grinsend zeigt sie die Spitze eines Fingers. «Vorher war meine Vagina nur so tief.» Bis zur Diagnose hatte sie angenommen, sie hätte einfach ein dickes Jungfernhäutchen. Dann beginnt sie, die Vagina zu dehnen. «Das funktioniert ähnlich wie wenn man bei den Ohrläppchen die Löcher vergrössern will: Man dehnt sie mit immer grösser werdenden Ringen auf. Ich dehne meine Vagina mit einer Art Mini-Dildos auf.» Das Verfahren sei zwar etwas unangenehm und dauere über einige Monate jeden Abend eine Viertelstunde. Aber danach sei Geschlechtsverkehr ganz normal möglich.

«Ich möchte kein Mitleid und nicht mit Samthandschuhen angefasst werden.»

Ella, MRKH-Betroffene

Schwieriger ist es mit der fehlenden Gebärmutter: Ella ist unfruchtbar. Sie hat Angst vor dem Alter, in dem Kinderkriegen ein Thema wird. «Man hört, es gebe ab einem gewissen Alter fast einen Druck, Kinder zu haben Kinderwunsch «Wieso darf ich nicht Mama sein?» .» Ikbale Siercks hat bei ihrer Arbeit in der Kinderwunschklinik häufig mit diesem Druck zu tun. Sie ist überzeugt, dass dieser Druck in erster Linie aus dem Innern kommt, biologische Gründe hat. Bei den ratsuchenden Paaren seien denn auch die Frauen meistens emotionaler, die Männer eher rational. «Aber es gibt auch eine gesellschaftliche Vorstellung, wie eine Familie auszusehen hat. Viele Paare ohne Kinder stehen unter grossem Stress, weil jeder aus ihrem Umfeld fragt, wann es denn bei ihnen so weit sei.»

Würde Ella erklären, warum sie keine Kinder hat? «Kommt darauf an, wer fragt.» Vermutlich werde sie ihr MRKH-Syndrom aber häufig verschweigen. «Ich glaube, ich würde vor allem Mitleid bekommen, und das möchte ich nicht. Ich möchte nicht diejenige sein, die alle mit Samthandschuhen anfassen und bei der sie meinen, ja nicht über ihre eigenen Kinder reden oder das Thema Babys ansprechen zu dürfen.»

Biologisch eigene Kinder sind möglich, aber...

Da MRKH-Betroffene Eierstöcke haben, gibt es neben der Adoption theoretisch auch zwei Möglichkeiten für biologisch eigene Kinder: Die erste ist die der Leihmutterschaft Leihmutterschaft Ein Kind um jeden Preis , die in der Schweiz und allen angrenzenden Ländern allerdings verboten ist. «Ich müsste dafür ins weiter entfernte Ausland. Und dann wird es rechtlich schwierig, dieses Kind in die Schweiz zu holen.» Bedenken hat sie bezüglich dieser Variante auch, weil viele Leihmütter, gerade im Osten extrem ausgebeutet werden. «Diesen Frauen werden zum Beispiel Drillinge implantiert und zwei Kinder abgetrieben, einfach, weil die Leute nur ein Kind ‹bestellt› haben. Sehr grusig.» Zudem sei das Verfahren sehr teuer.

Die zweite Möglichkeit gibt es erst seit wenigen Jahren: die Gebärmuttertransplantation. Etwa zwanzig Kinder wurden weltweit seit 2014 auf diese Weise geboren. Unter anderem in Deutschland, wo 2019 zwei Kinder von MRKH-Betroffenen nach einer Uterustransplantation an der Uniklinik Tübingen zur Welt kamen. Auch dieses Verfahren ist umstritten und wird von den den Krankenkassen nicht vergütet. Die Nationale Ethikkommission der Humanmedizin rät zudem vorerst eher von Gebärmuttertransplantationen ab. Sie verweist auf die unsicheren Folgen des Verfahrens für das Kind, auf die Risiken des operativen Eingriffs.

Eine fremde Gebärmutter implantieren? «Ich glaube nicht, dass das für mich eine Option wird», sagt Ella. Die Transplantationen finden meist von der Mutter zur Tochter statt. Zu dem Zeitpunkt, an dem Ella eventuell bereit für Kinder wäre, wäre ihre Mutter bereits über sechzig. Die Gebärmutter wäre dann schon sehr lange nicht mehr mit den Hormonen des weiblichen Zyklus in Kontakt gewesen und auch die zwölfstündige Operation in der Nähe vieler wichtiger Blutgefässe würde für die Mutter mit zunehmendem Alter heikel.

«Ich habe mir immer eine Zukunft mit Kindern vorgestellt. Dann stützt man sich auf diese Möglichkeiten, weil man das dann noch nicht aufgeben muss.»

Ella kam ohne Uterus und Vagina auf die Welt

Manchmal wird Ella unvorbereitet mit ihrem Anderssein konfrontiert. Beispielsweise, als in einer kleinen Runde mit ein paar Freunden das Thema Kinder aufkommt. Bescheid über Ellas Syndrom weiss hier nur eine ihrer besten Freundinnen. Sie denkt aber in dem Moment nicht daran. «Sie sagte, sie verstehe diese ganzen künstlichen Befruchtungen Künstliche Befruchtung «Es zerriss mich fast» nicht, sie finde das zu krampfhaft», wiederholt Ella die Diskussion von damals. Ihre Stimme wird leiser und bricht, als sie die Worte ihrer Freundin nacherzählt: «Sie sagte, wenn Gott das nicht so vorgesehen habe, dann müsse man das halt akzeptieren.» 

Damals am Tisch sagt Ella nichts mehr. Später entschuldigt sich ihre Freundin, aber Ella winkt ab. «Sie hat einfach ungefiltert ihre Meinung geäussert, ich kann ihr gar nicht böse sein.» Viele seien dieser Meinung. «Es war einfach hart für mich, dies so unvermittelt ins Gesicht gesagt zu bekommen.» Denn sie habe sich immer eine Zukunft mit Kindern vorgestellt. «Dann stützt man sich auf diese Möglichkeiten, weil man das dann noch nicht aufgeben muss.» Sie spricht von den biologisch eigenen Kindern. Adoptieren könne sie natürlich auch. «Aber man muss halt auch jemanden finden, der das Ganze mitmacht. Und man muss sich fragen: Will ich überhaupt Kinder? Ich weiss auch nicht...»

Ikbale Siercks' ältere MRKH-Patientinnen haben alle keine Kinder. Davon, dass ein Mann das nicht mitgemacht hätte, hat sie in ihren Sprechstunden bisher aber noch nichts gehört. «Ich sehe sehr hübsche junge Frauen, die aber oft Distanz zu Männern halten und sich beispielsweise stärker auf ihre Karrieren konzentrieren.»

Trotz fehlender Geschlechtsorgane eine Frau

Ella erzählte ihrem Exfreund nach zwei Monaten Beziehung von dem Syndrom. Sie hatte Angst, dass er danach nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Sie erklärte ihm alles ganz genau – dann blieb er eine Weile still. «Er hat mich angesehen und gefragt: ‹Und jetzt? Denkst du, dass ich dich deswegen nicht mehr liebe?›» Dieser Zuspruch habe ihr sehr gut getan. «Dafür bin ich ihm auch heute noch sehr dankbar. Es hat mir geholfen, zu realisieren, dass das MRHK-Syndrom vielleicht gar nicht so wichtig ist, wie ich mir oft einrede. Ich kann trotzdem mit jemandem zusammen sein, bin trotzdem eine Frau.»

Inzwischen hat sie sich von ihm getrennt, allerdings aus ganz gewöhnlichen Gründen. Mit ihren Eltern kann sie heute ganz normal über das Syndrom sprechen und auch sonst versucht sie, ein bisschen offener damit zu sein: «Ich glaube, das ist der beste Weg. Wenn man es ausspricht, wird es real. Und irgendwann ist es ganz normal, darüber zu sprechen.»


*Name der Redaktion bekannt

Wissen, was dem Körper gut tut.
«Wissen, was dem Körper gut tut.»
Jasmine Helbling, Redaktorin
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