Der Konsum von ADHS-Medikamenten nimmt in der Schweiz laut dem Gesundheitsobservatorium Obsan stark zu. Fachärztinnen und -ärzte betonen, alles verlaufe geordnet, doch die Zahlen werfen Fragen auf. Zwar werden heute mehr Mädchen und Erwachsene diagnostiziert, aber vor allem Buben und junge Männer erhalten nach wie vor am meisten Ritalin und ähnliche Präparate – und ihr Anteil wächst am stärksten. Schätzungen zufolge bekommen inzwischen rund 4 Prozent aller Schulkinder ADHS-Medikamente, bei den Buben 5,5 Prozent. Jeder zehnte 11- bis 15-Jährige nimmt mittlerweile solche Medikamente. Der Soziologe Pascal Rudin ist einer der wenigen Kritiker dieser Praxis in der Schweiz.

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Herr Rudin, streiten Sie sich oft mit Psychologinnen, Psychiatern und Ärztinnen?
Ja, ich führe oft Streitgespräche. Ich vertrete eine Gegenposition, das sorgt für Auseinandersetzungen. Früher wurden meine Argumente als unwissenschaftlich abgetan, heute können wir auch im Gremium des Bundesamts für Gesundheit sachlich diskutieren. Es geht immer um die Grundfrage: Was ist Umwelt, was ist Biologie?

Zur Person

Sie sagen, ADHS sei keine Krankheit, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt.
ADHS ist für mich ein Missverhältnis zwischen Veranlagung und Umfeld – eine Abweichung von gesellschaftlichen Erwartungen. Ein Kind wirkt unruhig, vielleicht wegen Sorgen oder Armut. Trotzdem wird oft zu schnell diagnostiziert und behandelt. Wie Verhalten bewertet wird, hängt stark von sozialen und kulturellen Normen ab. ADHS lässt sich biologisch nicht eindeutig nachweisen – es gibt weder bildgebende Verfahren noch Bluttests dafür.

Die meisten psychiatrischen Diagnosen können nicht eindeutig festgemacht werden. Bezweifeln Sie diese auch?
Nein, aber ich kritisiere, wie darüber gesprochen wird. Gerade bei ADHS werden komplexe Sachverhalte oft beliebig interpretiert, verkürzt und vereinfacht. Und die Mehrheit der Diagnosen betrifft Kinder in einer sensiblen Entwicklungsphase. Oft sind es Jungs im Alter von acht, neun Jahren. Auch spielen bei den Diagnosekriterien Erwartungen an schulische Leistungen und Verhaltensweisen eine grosse Rolle. Zudem wird ADHS sehr schnell medikamentös behandelt statt umfassend abgeklärt. In manchen Kantonen erhalten fast 20 Prozent der Buben zwischen 11 und 15 Jahren Psychostimulanzien. Wir sollten hinterfragen, welche Normen da als Massstab dienen.

Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie die Existenz einer neurobiologischen Störung anzweifeln und damit den Leidensdruck der betroffenen Kinder leugnen.
Im Gegenteil. Ich nehme es sehr ernst. Genau deshalb warne ich vor vorschneller Pathologisierung. Eine Diagnose kann stigmatisieren und von sozialen Ursachen ablenken. Wir brauchen eine Diagnostik, die pädagogische, familiäre und gesellschaftliche Faktoren mit einbezieht.

Sie meinen insbesondere, dass nicht zu schnell Ritalin verschrieben wird?
Ja, früher gab es körperliche Züchtigung, heute findet sie über Medikamente statt.

«Viele Kinder wollen keine Tabletten, werden aber früh daran gewöhnt.»

Pascal Rudin, Soziologe

Körperliche Züchtigung via Medikamente? Im Ernst?
Ich meine das natürlich im übertragenen Sinn. Unruhe wird chemisch beruhigt. Viele Kinder wollen keine Tabletten, werden aber früh daran gewöhnt. Später, als Jugendliche oder Erwachsene, ist die Akzeptanz dann grösser. Und klar: Die Schweiz ist ein Pharmaland.

Im Tessin bekommen nur 0,8 Prozent der Schulkinder ADHS-Medikamente. Die tiefste Rate der Schweiz. Ein Vorbild für Sie?
Ja, das Tessin zeigt, dass es auch anders geht. Viele Ärztinnen und Ärzte dort kommen aus Italien, wo die Skepsis gegenüber Ritalin gross ist. Und in der südländischen Kultur sind laute und fröhliche Kinder, die viel rumrennen und sich austoben, normal. Zudem setzt das Tessin stärker auf pädagogische und soziale Lösungen, und das Bildungssystem ist durchlässiger: Die Selektion erfolgt später.