«Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.» Ein Spruch, den man vor Ausflügen in die Berge und gemeinhin den ganzen Winter von der Grossmutter zu hören bekam. Meist zog man sich dann noch eine Schicht mehr über. Heute jedoch tun wir das Gegenteil.

Winterschwimmen, Eisbaden, Kälteyoga – Kältetrainings Kalt abduschen lohnt sich Die Kraft des kalten Wassers sind ein Trend. Einer, den man gern aus der Ferne beobachtet, wenn man wie ich selbst die kalte Dusche nach dem Saunagang scheut. Doch «Kältewandern» hört sich nicht ganz so abschreckend an. Auf den Bildern zum Thema stapfen fröhlich lachende Menschen in Badesachen durch den Schnee. «Man darf aber auch im Top und kurzen Shorts dazu aufbrechen, es muss nicht unbedingt der Bikini sein», sagt Gerda Imhof und verscheucht damit die letzten Bedenken.

Gerda Imhof kennt sich mit Kälte aus, und unsere heutige «Kälteerfahrung» ist für sie ein Spaziergang. Eine gemütliche Runde «Vitamin-D-Tanken», wie sie es nennt. Die Yogalehrerin war schon stundenlang bei minus 15 Grad im Bikini unterwegs.

Wir nehmen uns für meine erste Kältewanderung keine grosse Route vor. 90 Minuten soll der Aufstieg von der Krienseregg zur Fräkmüntegg am Pilatus dauern. Aufwärtsgehen hält warm, die 90 Minuten sollten temperaturtechnisch gut zu schaffen sein.

1 Grad, gefühlt minus 1, sagt die Wetter-App. Trotzdem steigt die Aufregung, als wir in der Gondel sitzen. Wie wird der Körper reagieren? Wie die Leute, denen wir begegnen? Zum Glück sind wir allein an der Bahnstation. Denn ein wenig seltsam komme ich mir doch vor, wie ich mich hier im Schnee, zwischen den vorbeischwebenden Gondeln und den gelben Wegweisern, meiner warmen Kleider entledige und sie in den Rucksack packe. Schuhe und Kappe behalte ich an, die Handschuhe sind griffbereit.

2 Frauen im Schnee. Im Bikini auf den Berg. Kältetrainings sollen besonders gesund sein. Unsere Autorin wollte es genauer wissen und ging in Shorts und Tanktop im Schnee wandern.

Einzig die Hände werden klamm: Kältewanderinnen Gerda Imhof und Jana Avanzini

Quelle: Anna-Tia Buss

Die ersten paar Hundert Meter gehts nach unten, am Wegrand stehen die Tannen dicht. Die Hände werden kalt, den Rest des Körpers jedoch scheint das Ganze wenig zu stören. «Nicht verkrampfen» ist der wichtigste Tipp zum Start. Man muss die Kälte annehmen, sich darin entspannen. Das klappt erstaunlich gut.

Kurzes Grüssen – lautes Schreien

Die ersten Menschen, die uns entgegenkommen, scheinen unbeeindruckt: Ohne eine Miene zu verziehen, grüssen sie im Vorbeigehen kurz angebunden. «Schweizerinnen und Schweizer sind viel zu anständig, um offen Neugier oder Irritation zu zeigen», sagt Gerda Imhof. Und sie wird recht behalten. Abgesehen von dem einen Paar, das mit dem Spruch «Zwei Hitzige seid ihr!» und der Frage, ob wir eine Wette verloren hätten, erwartbare Kommentare abliefert, bleiben die Reaktionen auffällig unauffällig.

Anders verhält es sich bei den Menschen, die streckenweise in der Seilbahn über unseren Köpfen schweben. Hier wird mit blossen Fingern gezeigt und gewunken. Warm eingepackte Joggen im Winter Gegen Wind und Wetter geschützt Touristen schreien in einer gefühlten Mischung aus Entsetzen und Begeisterung aus den roten Gondeln. Etwas ausgestellt komme ich mir vor, etwas schutzlos und doch stark wie selten.

Begegnen wir dann wieder über längere Strecken niemandem, scheint alles ganz normal. Wir plaudern, bestaunen die Aussicht, die zusätzlichen Schichten Kleider fehlen nicht im Geringsten. Es geht dem Körper gut in der Kälte, die Bewegung wärmt, und auf einigen Abschnitten erwischen wir ein paar Sonnenstrahlen.

Kälte als mentale Herausforderung

Wird der Wald dichter, führt der Weg wieder tiefer in die Täler, näher am vereisten Bachbett entlang wird die Kälte härter. Wer sich ihr regelmässig aussetze, sei es beim Wandern, beim Schwimmen oder beim Yoga, erlebe die Elemente auch bewusster, betont Gerda Imhof. «Man nimmt das Wetter intensiver wahr, die Jahreszeiten, die Natur allgemein.» Sollte es mit der Kälte kritisch werden, könne man sie nicht mehr ausblenden, schwerlich aushalten, dann solle man sich auf den Atem konzentrieren, sagt sie. «Und auf die warmen Körperstellen.»

Ihr erstes Kältewandern liegt nun fünf Jahre zurück. Gemeinsam mit ihrem Partner hatte sie sich für eine Kältewoche in Polen angemeldet, und um sich darauf vorzubereiten, begannen die beiden mit dem Winterschwimmen. Zweimal wöchentlich in den Vierwaldstättersee. Sie ist dabeigeblieben und gründete 2018 die «Winterschwimmer Luzern», eine Gruppe mit mittlerweile über 120 Mitgliedern.

Mehr Informationen
Wie gesund ist die Kälte?

«Das Interesse hat massiv zugenommen in den letzten Jahren», stellt Gerda Imhof fest. Zu Beginn seien sie nur ein paar wenige gewesen, und die Leute waren über ihr winterliches Baden ziemlich irritiert. Heute schwimmen neben ihren Winterschwimmern viele weitere Gruppen und Einzelpersonen das ganze Jahr im See.

Sie näherte sich der Kälte wegen ihres Grossvaters an. Eine kalte Dusche am Morgen gehörte für ihn zur Routine und so bald auch für die Enkelin, wenn sie als Kind die Ferien bei ihm verbrachte. «Mal mit mehr, mal mit weniger Enthusiasmus hielt ich mich daran», sagt sie. Das sei auch beim Winterschwimmen so. «Es ist definitiv eine mentale Herausforderung, aber gerade das schätze ich daran.»

Jana Avanzini & Gerda Imhof Wandern von Kriensegg

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Kältetrainings zur Stärkung des Immunsystems beitragen.

Quelle: Anna-Tia Buss

Über die Jahre habe sich jedoch immer wieder verändert, mit welchem Fokus und welcher Motivation sie sich regelmässig der Kälte aussetze. Ein Grund jedoch überrascht: «Ich wollte den Winter gernbekommen.» Sie sei ein Gfröörli und habe die kalte Jahreszeit nie wirklich gemocht. Die Beziehungsarbeit mit dem Winter hat sich gelohnt. Auch mit Wintersport, den sie wegen der Kälte lange mied, habe sie vor kurzem wieder angefangen.

Dass man sein Immunsystem stärken könne und dass sich das Kältetraining auch psychisch positiv auswirke, seien weitere gute Gründe, sich zu überwinden. «Ich vergleiche das Gefühl gern mit dem Neustart eines Computers, der über Wochen ohne Updates im Dauerbetrieb lief», sagt Gerda Imhof. «Wichtig ist aber immer, auf den eigenen Körper zu hören.»

Plötzlich zucken die Muskeln

Meiner ist offenbar ganz zufrieden mit der Situation. Erst auf den letzten Metern wird die Kälte unangenehm. Ein eisiger Wind bläst über den Hügel, der Pilatus ist nicht mehr von weich und weiss bedeckten Baumwipfeln gerahmt. Blau schimmernd und felsig steht er da.

Nun heisst es: Konzentration auf die warmen Körperstellen. Auf den Brustbereich, das Becken. Es sind nur noch wenige Kurven, und bald tauchen Touristen auf, in wattierten Jacken und kuscheligen Mützen. Wir marschieren unbeeindruckt an den ungläubigen Gesichtern vorbei, und auf dem windgeschützten Platz vor der Seilbahnstation kommt kurz der Gedanke auf, vielleicht doch noch weiterzumachen. Wir werden es dabei belassen – obwohl wir noch nicht an unsere Grenzen gekommen sind.

Als wir uns wieder anziehen, fühlt sich der Stoff der Kleider weicher und wärmer an als zuvor, der Tee Teekräuter und ihre Wirkung Dagegen helfen diese Tees dampft aus den Thermosflaschen. Erst in der Seilbahn kommt die Kälte. Das kühle Blut verteilt sich von Armen und Beinen in den Oberkörper. Kurze, unkontrollierte Muskelzuckungen schütteln ihn. Lange aber halten sie nicht an. Als wir von der Talstation zum Bus spazieren, ist das Kältegefühl wieder weg. Was bleibt, noch einige Tage, ist Leichtigkeit und Energie. Und auch ein wenig Stolz.