So lange bleiben abgelaufene Medikamente wirksam
Pharmaexperten sind sich einig: Die meisten Medikamente kann man bedenkenlos über das Verfallsdatum hinaus konsumieren. Aber eben nicht alle.

Veröffentlicht am 18. November 2025 - 15:17 Uhr

Abgelaufene Medikamente muss man nicht zwingend wegwerfen, oft sind sie noch über das Ablaufdatum hinaus wirksam.
Jedes Jahr landen Millionen abgelaufener Medikamente im Müll : 2023 waren es 6375 Tonnen, die gemäss der neusten Sonderabfallstatistik des Bundesamtes für Umwelt (Bafu) in der Tonne landeten. Knapp 500 Tonnen davon sind Medikamente, die im Siedlungsabfall landen. Zusätzlich werden in Spitälern, Arztpraxen oder auch in der tiermedizinischen Versorgung Arzneien entsorgt – Abfall, der viel Geld wert ist.
Allein die entsorgten Medikamente aus Privathaushalten haben gemäss neusten Schätzungen einen Wert von über einer Milliarde Franken. Dabei wäre es oftmals gar nicht nötig, die Medikamente zu entsorgen. Denn anders als bei Lebensmitteln gibt das Verfallsdatum bei Medikamenten nicht an, wann sie verderblich sind, sondern nur, wie lange ein Hersteller garantieren will, dass sein Mittel hundertprozentig wirksam ist.
Die meisten Medikamente könne man bedenkenlos über das Verfallsdatum hinaus einnehmen, sagt denn auch der Wiler Arzt und Herausgeber der «Pharma-Kritik» Etzel Gysling zum Beobachter. Und: «Ich bin mir sicher, dass hier massive kommerzielle Interessen mitspielen.»
Doch die Frage, wie man Medikamente richtig lagert, spielt ebenso eine grosse Rolle für die Haltbarkeit (siehe unten).
Tabletten sind erst verdorben, wenn sie zerbröseln
Etzel Gysling schätzt, dass in vielen Hausapotheken jede Menge Medikamente herumliegen, deren Verfallsdatum schon länger zurückliege. Werden sie durch frische ersetzt, ist das ein gutes Geschäft für die Pharmaindustrie.
«Nur bei flüssigen Präparaten wie etwa Augentropfen ist ein Verfallsdatum möglicherweise sinnvoll.» Insbesondere, wenn die Flasche schon geöffnet sei. «Dann droht eine Kontamination mit Viren und Bakterien. Da ist es sicherer, das Medikament in der Apotheke zu entsorgen», sagt Gysling.
Noch einen Schritt weiter ging der unterdessen verstorbene deutsche Apotheker und Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske. «Heute werden Medikamente dank ausgebuffter Technologie so sauber hergestellt und verpackt, dass sie deutlich länger stabil bleiben als früher», sagte er 2020 zum Beobachter.
Abgelaufene Medikamente seien heute weitgehend gefahrlos. «Erst wenn Tabletten zu bröseln beginnen und der Tablettenrand nicht mehr scharf ist, wenn bei Dragées die Oberfläche gerissen ist und bei Flüssigkeiten sich vielleicht etwas absetzt, sollte man zurückhaltend sein.»
Haftung für Medikamente nur bis zum Verfallsdatum
Dennoch sollten sich Patientinnen und Patienten bewusst sein, dass das Haltbarkeitsdatum vor allem versicherungstechnisch relevant ist. Die Medikamentenhersteller tragen bis zum Zeitpunkt des Verfallsdatums die Verantwortung für die Wirksamkeit und Verträglichkeit des Präparats und sind somit auch haftbar bei möglichen Nebenwirkungen. «Insofern sollte man den Verbrauchern raten, das Verfallsdatum zu berücksichtigen», sagte Pharmaprofessor Glaeske. Konsumiere man das Arzneimittel darüber hinaus, geschehe dies auf eigenes Risiko.
Glaeske betonte jedoch, dass der Versicherungsschutz der Medikamentenhersteller nicht von der Wirksamkeit und Verträglichkeit der Medikamente hergeleitet werde. Denn die Hersteller seien gesetzlich oftmals nicht verpflichtet, die Haltbarkeit bis zur Maximaldauer der Wirksamkeit und Verträglichkeit zu prüfen.
Wie kann man den Widerspruch zwischen Haltbarkeit und Wirksamkeit lösen? Gerd Glaeske plädierte für eine pragmatische Lösung: Würde man die maximale Haltbarkeitsdauer erweitern oder abschaffen, könnte man verhindern, dass noch wirksame Medikamente entsorgt werden. Zudem könnte eine optimale Patientenversorgung gewährleistet und Kosten gesenkt werden.
Viele Medikamete sind noch wirksam
Die deutsche Pharmazeutin und Chemikerin Ulrike Holzgrabe wollte es genau wissen und untersuchte 2019 alte Feststoffe und Ampullen, die zwischen 20 und 47 Jahre alt waren. Alle diese Medikamente hatten das maximale Haltbarkeitsdatum also um ein Vielfaches überschritten. Darunter waren etwa Betablocker, Asthma- und Rheuma-Medikamente oder auch Psychopharmaka.
Das überraschende Ergebnis: 44 der 50 getesteten Präparate entsprachen noch den geltenden Arzneimittelanforderungen. Mit anderen Worten: Sie waren deutlich über das angegebene Datum hinaus voll wirksam.
Holzgrabe verglich ihre Daten mit Forschungen aus den USA. Sie und ihre Mitautoren kommen in einem Artikel in der «Deutschen Apothekerzeitung» zum Schluss: Eine Vielzahl der Medikamente ist über das Haltbarkeitsdatum hinaus noch gut. Würde nur schon die Dauer verlängert für die maximal zulässige Haltbarkeit, könnte man nicht nur Kosten sparen im Gesundheitswesen, sondern auch die Lieferengpässe abfedern oder gar verhindern .
Wirksamkeit testen statt wegwerfen
Am meisten betroffen von zu kurzen Verfallsdaten sind aber nicht etwa Konsumentinnen und Konsumenten, sondern jene staatlichen Institutionen, die Medikamente in grossen Mengen lagern: das Militär und der Katastrophenschutz. Auch für sie hat Glaeske ein wirksames Sparrezept auf Lager: Statt die abgelaufenen Medikamente unbesehen zu vernichten, sollten sie ein paar Tausend Franken für Wirksamkeitstests investieren. Was wirkt, bleibt dann im Lager. So lasse sich viel Geld sparen.
Tipps: So bewahren Sie Medikamente richtig auf
Auch die richtige Lagerung von Arzneimitteln beeinflusst die Haltbarkeit, wie Studien belegen.
- Halten Sie sich bei der Lagerung an die Empfehlungen der Hersteller. Laut Carla Meyer Massetti, Fachapothekerin für Spitalpharmazie und Assistenzprofessorin am Institut für Hausarztmedizin der Uni Bern, scheitere eine längere Verwendungsmöglichkeit oft am Faktor Mensch: «Häufig werden Medikamente und Arzneimittel zu Hause nicht optimal gelagert.» Das liege daran, dass kaum jemand an einem heissen Sommertag daran denke, die Hausapotheke in den gekühlten Keller zu bringen.
- Medikamente sollten in einem Schrank oder in einer Schublade gelagert werden, wo die Sonne nicht direkt draufscheint.
- Temperaturschwankungen und zu viel Feuchtigkeit schaden den Medikamenten ebenfalls. Die Arzneimittel sollten deshalb nicht über einem Heizkörper oder direkt auf einer Bodenheizung und auch nicht in der Küche gelagert werden.
- Einige Medikamente verlieren ihre Wirksamkeit, wenn sie Licht ausgesetzt sind. Deshalb sollte man Medikamente in der Orginalverpackung aufbewahren. Diese schützt nicht nur vor Umwelteinflüssen, sondern enthält auch die wichtigsten Informationen wie Beipackzettel, Herstellerangaben und Chargennummer.
- Vor der Einnahme sollte man Medikamente zudem auf ihre Qualität überprüfen.
Wann sollte man Medikamente entsorgen?
Man sollte Arzneimittel gar nicht erst lange aufbewahren – erst recht nicht, wenn sie irgendwann einmal verschrieben wurden und man nicht mehr weiss, für wen und warum.
Entsorgen muss man diese Medikamente:
- Tabletten oder Dragées, wenn sie eine ungleichmässige Färbung, dunkle Flecken und Risse haben.
- Salben und Cremes, wenn sie eingetrocknet sind, Bestandteile sich separieren oder ranzig riechen.
- Flüssigkeiten, wenn sie sich verfärben, trübe werden oder sich Flocken oder Bodenablagerungen bilden. Allgemein ist bei geöffneten Gefässen von Flüssigkeiten aus hygienischen Gründen Vorsicht geboten (etwa Augentropfen, Hustensirup).
- Zäpfchen, wenn sie glitzernde, kristalline Auflagerungen haben.
- Übrig gebliebene Antibiotika oder Rheumamittel, die beispielsweise für andere Familienmitglieder verordnet wurden, sollte man auf keinen Fall selbst verwenden.
- Bei einigen Arzneimitteln wie Augentropfen oder Antibiotika in Granulatform soll das Verfallsdatum beachtet werden. In der Regel beträgt dies vier Wochen.
- Medikamente gehören nicht in den Ausguss oder den Kehrichtsack. Man gibt sie in der Apotheke ab. Die sorgt dann für eine fachgerechte Entsorgung.
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 3. August 2020 publiziert und am 18. November 2025 ergänzt und aktualisiert.




