Zwei neue Studien zeigen, dass sich Pestizide teilweise kilometerweit über die Luft verbreiten, viel weiter als bisher angenommen. Das Umweltinstitut München untersuchte, wie weit und wann sich giftige Stoffe rund um die intensive Obstwirtschaft im Südtirol fortbewegen. Das Resultat: In der an die Schweiz grenzenden Region Vinschgau sind Mensch und Umwelt über Monate hinweg einer Dauerbelastung mit Pestiziden ausgesetzt.

Der «Cocktail-Effekt»

Einige Gifte werden vom Wind kilometerweit transportiert, sogar bis auf über 1600 Höhenmeter in Seitentäler. Darunter fanden die Forscher auch ein Insektengift, vom dem es nur eine winzige Menge braucht, um eine Biene zu töten Insekten Das stille Sterben . Zudem betonen sie, dass sich immer unterschiedliche Pestizide gleichzeitig in der Luft befinden, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig beeinflussen können. Das nennen sie «Cocktail-Effekt». Und fanden in ihrer Studie zum Beispiel auf einer Bio-Apfelplantage mehrere giftige Stoffe, die kombiniert eine viel toxischere Wirkung auf Honigbienen haben als einzeln. 

Das Umweltinstitut München kritisiert das europäische Zulassungsverfahren und die Behörden scharf. Der «Cocktail-Effekt» werde ignoriert, die Verbreitung von Pestiziden über die Luft vernachlässigt und kein systematisches Monitoring gemacht. Zudem würden rein technische Massnahmen nicht ausreichen, um das Problem zu verhindern. Die einzige Lösung sei der komplette Verzicht auf Pestizide. 

In der Südtiroler Gemeinde Mals, die 2014 als europaweit erste Gemeinde in einer Volksabstimmung ein Pestizidverbot beschlossen hatte, nimmt man die Resultate mit grosser Besorgnis auf, wie die «Südostschweiz» berichtet. Ebenso im angrenzenden Schweizer Nationalpark: Der Geschäftsführer des Parks hat bereits beim Bündner Umweltamt nachgefragt, ob man solche Messungen nicht auch im Val Müstair machen sollte.
 

Glyphosat dürfte eigentlich nicht in der Luft sein

Das deutsche Umweltbüro «TIEM integrierte Umweltüberwachung» veröffentlichte zudem kürzlich die bis dato umfassendste Studie zur Luftbelastung von Pestiziden in Deutschland. Dafür wurden im ganzen Land Messungen gemacht und über 100 durch die Luft verbreitete Pestizide nachgewiesen.

Die Forscher fanden nicht nur aktuell eingesetzte Pestizide, sondern auch solche, die seit über 40 Jahren in Deutschland verboten und trotzdem noch in grossen Mengen in der Luft vorhanden sind. Nicht etwa, weil sie trotz Verbot noch eingesetzt würden, sondern weil deren Abbau sehr lange dauert und sie deshalb auch Jahre später noch zirkulieren. Zudem wurde das umstrittene Glyphosat Unkrautvertilger «Glyphosat ist krebserregend» an 55 Prozent der Standortproben festgestellt – und zwar obwohl man bisher im Zulassungsverfahren eine Verbreitung über den Luftweg ausgeschlossen hatte, weil das Mittel selbst nicht flüchtig sei. 

In der Schweiz ist bisher wenig über die weite Verbreitung von Pestiziden über die Luft geforscht worden. (siehe Box am Artikelende)

Studie beunruhigt Experten

«Diese neuen Erkenntnisse sind beunruhigend und müssen auf jeden Fall sorgfältig angeschaut werden», sagt Bernhard Speiser vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL. «Es braucht unbedingt vergleichbare Messungen in der Schweiz und man müsste natürlich untersuchen, inwiefern diese weitreichende Luftverfrachtung von Pestiziden einen Einfluss auf Bioparzellen hat.»

Die sogenannte Abdrift kenne man schon lange. Das ist der Teil der aufgetragenen Pflanzenschutzmittel, der aus verschiedenen Gründen nicht innerhalb der gewünschten Fläche bleibt. «Dass sich die Wolke der Pestizidlösung bis zu ein paar Dutzend Meter über die behandelte Kultur hinaus verbreitet, wusste man. Aber dass hier eine Luftverfrachtung der Pestizide sogar über Dutzende von Kilometern nachgewiesen werden konnte, ist neu», sagt Speiser.

Eine neue Studie der Uni Neuenburg zeigt: Auch auf Bio- und unbehandelten Flächen in der Schweiz gibt es häufig Spuren von Pestiziden. «Produkte, die im Verkaufsregal landen, werden aber streng überwacht und weisen nur selten Rückstände auf», sagt Bernhard Speiser dazu. 

Bauernverband setzt auf technischen Fortschritt

David Brugger, Leiter Pflanzenbau beim Bauernverband, sagt, Abdrift sei ein wichtiges Thema und man wolle sie mit allen Mitteln verhindern. Denn einerseits gingen dadurch Wirkstoffe verloren und andererseits sei es nicht gut für die Umwelt. «Allerdings lässt sich viel der unerwünschten Verbreitung über den Luftweg mit technischen Mitteln reduzieren. Mit ausgeklügelter Technologie und strengeren Vorschriften zum Beispiel zum Abstand zu Gewässern lässt sich die Gefahr eindämmen», sagt er.

Insbesondere in Flächenkulturen sei man im Bereich der Düsentechnologie weit. Beim Wein- und Obstanbau seien die Verhältnisse jedoch schwieriger, denn es sei komplizierter, nahe genug an die Pflanzen heranzukommen. «Das Problem der Abdrift ist erkannt und man hat grosse Fortschritte gemacht, aber wir sind natürlich noch nicht am Ziel», sagt Brugger.

Andere Ausgangslage als im Südtirol

Der Branchenverband Deutschschweizer Wein sagt, die maschinelle Erschliessung nehme zu und damit die Menge derjenigen Reb-Parzellen ab, die über die Luft, also mit Helikopterflügen, behandelt werden müssten. Allerdings sei das ein langsamer Prozess. Drohnen könnten näher an die Reben heranfliegen und damit eine Abdrift vermindern. Aber diese Technik sei heute noch nicht genug ausgereift, um sie grossflächig einsetzen zu können.

«Die Bepflanzung neuer Sorten, die pilzwiderstandsfähig sind, ist die effektivste Lösung gegen den Einsatz von Pflanzenschutzmittel und somit auch gegen die Pestizidverbreitung über die Luft», sagt Robin Haug, Geschäftsführer des Verbands. Der Prozess dauere jedoch sehr lange, denn jährlich würden nur drei Prozent der Rebfläche erneuert und neue Sorten hätten wegen der geringen Bekanntheit auf dem Markt einen schwierigen Stand. 

«Dass Pflanzenschutzmittel Chlorpyrifos Hochgiftiges Pestizid womöglich bald verboten  sich über eine solch grosse Distanz verbreiten können, war uns nicht bekannt», sagt Jimmy Mariethoz, Direktor des Schweizer Obstverbands Swissfruit. Er weist aber darauf hin, dass die Ausgangslage hierzulande eine ganz andere sei als im Südtiroler Vinschgau. Dort sei die Produktion viel intensiver und konzentrierter als in der Schweiz: «Die ganze Menge an Obst, die wir vom Bodensee bis ins Wallis anbauen, wird dort in einem einzigen Tal produziert. Entsprechend intensiver ist wohl die Belastung.»

Politische Lösung gefordert

Die Grünen-Nationalrätin Maya Graf verlangt nun, dass sich der Bundesrat mit den neuen Studien beschäftigt. In der Frühlingssession hat sie im Parlament eine entsprechende Interpellation eingereicht. Sie will zum Beispiel Antworten darauf, wie die Zulassungsbehörde mit dem Cocktail-Effekt umgeht. Denn über die bisherige Vernachlässigung dieser Thematik ärgert sich Graf: Niemand fühle sich verantwortlich, solange die einzelnen Pestizide unter dem Grenzwert seien, obwohl diese kombiniert eine viel stärkere Toxizität entwickeln könnten. 

Philippe Schenkel, Experte für nachhaltige Landwirtschaft bei Greenpeace Schweiz, sagt, obwohl man die Cocktaileffekte eigentlich bei der Zulassung beachten müsste, gäbe es keine geeigneten Methoden dafür, dies auch tatsächlich zu tun. Das Ökotoxzentrum habe für Gewässer einen Ansatz entwickelt, der aber noch nicht angewendet werde. Und bei Rückständen in Lebensmitteln seien die europäischen Behörden daran, Leitlinien zu definieren. «Es ist aber schlicht unmöglich, eine seriöse Abschätzung sogenannter Mischtoxizitäten vorzunehmen. Dafür sind wir neben Pestiziden einfach zu vielen Substanzen wie etwa Kosmetika, Industriechemikalien, Brandschutzmittel und Luftschadstoffe ausgesetzt, die ja alle Wechselwirkungen haben könnten», sagt Schenkel.

Bundesrat muss Antworten liefern

Wie der Bundesrat mit den neuen Erkenntnissen zu den Gefahren von Pestiziden umgehen will, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Maya Graf fordert in ihrer Interpellation nämlich auch Antworten darauf, wie Natur und Menschen vor Immissionen geschützt werden können und ob ein systematisches Monitoring der Luftverfrachtung geplant ist.

«Es ist eigentlich erstaunlich, dass man bisher in der Schweiz keine solchen Messungen gemacht hat. Immerhin weiss man ja, dass sich beispielsweise Blütenstaub über viele Kilometer hinweg verbreitet», sagt die Grünen-Nationalrätin. «Aber trotzdem ist die Luftverfrachtung über weite Distanzen im nationalen Aktionsplan Pflanzenschutzmittel kein Thema.» 

Verbreitung von Pestiziden über die Luft bisher nicht im Fokus

Bisher ist beim Bund bezüglich Luftverfrachtung von Pestiziden wenig unternommen worden – in der Schweiz scheint es derzeit keine systematischen Messungen dazu zu geben. Beim Zulassungsverfahren werde vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV anhand von Modellen geprüft, mit welcher Pestizidmenge Anwohner und Spaziergänger bei der landwirtschaftlichen Anwendung in Kontakt kämen. «Falls bei dieser Beurteilung eine Gesundheitsgefährdung für den Menschen nicht ausgeschlossen werden kann, wird das Pestizid natürlich nicht zugelassen», sagt das BLV. 

Das Bundesamt für Landwirtschaft BLW sagt, die Umweltbelastung durch Luftschadstoffe sei durchaus systematisch an verschiedenen Standorten in Flechten untersucht worden. Allerdings geht es in der erwähnten Studie nicht um die Distanz, über die sich die Schadstoffe verbreiten. Das Bundesamt für Umwelt Bafu weist darauf hin, dass ein Forschungsprojekt von Agroscope in den nächsten Jahren Schweiz-spezifische Fragen und Lücken für die Risikobeurteilung von Pflanzenschutzmitteln identifizieren soll. 

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