Zwei Fotos. Auf dem einen kniet die Mutter neben dem Vater, der den Sohn festhält. Die Tochter gibt ihrem Bruder liebevoll einen Kuss auf die Wange. Alle lachen. Auf dem anderen ist Familie Auf der Maur zu dritt: Das Mädchen steht zwischen den Eltern – der Bruder fehlt. Neben dem Foto brennt eine Kerze.

«Vor zwei Jahren ist Rafael zu einem Schmetterling geworden und in den Himmel geflogen», erzählt Amanda. Als ihr jüngerer Bruder zwölf Monate alt war, löste ein seltener Gendefekt die unheilbare Krankheit Morbus Sandhoff aus und stoppte seine Entwicklung. Rafael verlernte immer mehr Dinge, bald konnte er nicht mehr stehen, dann nicht mehr krabbeln, schliesslich nicht mehr selber essen. Dazu kamen epileptische Anfälle, Atemprobleme und Muskelschwund. Ende November 2017 starb der Bub. Er wurde drei Jahre alt.

Amanda kann sich noch genau an diesen Tag erinnern. «Wir waren alle zu Hause. Mama und Papa, Rafael, die Spitex-Frau, die Ärztin und ich», erzählt die Zehnjährige. Ihren Eltern war es wichtig, in der vertrauten Umgebung zu sein. Mutter Laura Auf der Maur sagt: «Das machte es etwas einfacher, den Tod so gut wie möglich zu normalisieren, insbesondere gegenüber Amanda.»
 

Keine Tabus

Es ist das Unbekannte, das oft die grössten Ängste auslöst. Deshalb gab es bei Auf der Maurs keine Tabus. Amanda durfte jederzeit alles fragen. Nach Rafaels Tod bemalte die Familie seinen Sarg. Alle auf ihre ganz persönliche Art. «Ich habe eine Katze gemalt. Nachher kam der Himmelstaxichauffeur und hat Rafael zum Himmelslift gefahren», erzählt Amanda.

Beerdigung und Abschiednehmen waren für die Familie wichtige Etappen im Trauerprozess. «Ich glaube, dass wir es durch den offenen Umgang mit seinem Tod auch Amanda etwas leichter machen konnten», sagt Laura Auf der Maur. Anfangs sei Amanda oft wütend gewesen. Das passe so gar nicht zu ihrem Charakter.

Die Familie musste zuerst lernen, mit dem neuen Leben zurechtzukommen. Und muss es heute noch. «Trauer ist ein Anpassungsprozess», sagt die Psychologin Michèle Widler. Die 33-Jährige betreut kranke Kinder und ihre Familien. «Jeder Mensch, jedes Kind trauert anders. Deshalb benötigt jede Person unterschiedliche Arten von Hilfe Psychische Krise «Nichts tun ist immer falsch»
 

«Mein Bruder ist ein Teil von mir, und ich bin ein Teil von ihm.»

Amanda Auf der Maur (10)

Amanda (10). – In den Herzen befindet sich die Asche ihres Bruders Rafael. 

Quelle: Hanna Jaray
Methoden der Bewältigung

Gespräche, Bücher, Rollenspiele, Malen, Musik, Treffen mit Kindern und Familien, die Ähnliches erlebt haben – das alles könne Kindern helfen, besser mit den überwältigenden Emotionen umzugehen. «Trauern ist ein dynamischer Prozess, ein Pendeln zwischen Trauer und Neuorientierung», sagt Widler.

Auch Amanda ging zu Beginn alle paar Wochen nach Zürich in die Therapie bei Michèle Widler. Mittlerweile noch ein paarmal pro Jahr. Was Amanda in diesen Stunden macht, weiss ihre Mutter nicht genau. Es gebe Tage, da erzähle sie von den Sitzungen, an anderen wolle sie es lieber für sich behalten. «Manchmal ist es gut, wenn ich nicht alles weiss», sagt Laura Auf der Maur. «Hauptsache, es hilft Amanda, Rafaels Tod besser zu verarbeiten.»
 

«Trauer war viel zu lange ein Tabuthema in der Schweiz.»

Michèle Widler, Psychotherapeutin

Anfangs sei es sehr schwierig gewesen, einen Überblick über die vielen unterschiedlichen Hilfsangebote zu gewinnen. «Von einigen Angeboten haben wir auch erst sehr spät erfahren und konnten sie nicht mehr nutzen», sagt Laura Auf der Maur. Es gebe unzählige Websites, wo man sich Informationen zusammensuchen könne. «In einer so schwierigen Zeit hat man aber oft nicht die Kraft oder Lust, stundenlang im Internet zu surfen, bis man die passende Anlaufstelle gefunden hat.»

Ein Problem, das auch Psychotherapeutin Psychotherapie Des einen Freud... Michèle Widler kennt. «Ich wünsche mir, dass die verschiedenen Angebote besser vernetzt und leichter auffindbar sind.» Auch besseres Datenmaterial zum Thema Trauer und Trauerbegleitung wäre wichtig, um die Angebote gezielter auf die Betroffenen abstimmen zu können. In den letzten paar Jahren habe sich zwar viel getan, es gebe aber nach wie vor grossen Aufholbedarf. «Trauer war viel zu lange ein Tabuthema in der Schweiz», sagt Widler.
 

Buchtipp
Im Todesfall – Der komplette Ratgeber für Angehörige
Im Todesfall – Der komplette Ratgeber für Angehörige
Mit 15 ein Waisenkind

Die schockierende Erfahrung, dass ein Familienmitglied stirbt, begleitet viele Kinder bis weit ins Erwachsenenalter. So auch bei der heute 29-jährigen Selina Bischof*. Sie ist eines von mehr als 23'000 Waisen- und Halbwaisenkindern in der Schweiz. Ihr Vater tötete ihre Mutter und beging dann Suizid. Damals war Selina Bischof 15 Jahre alt. Mittlerweile habe sie gelernt, trotz dem traumatischen Erlebnis Trauma Ein Schock, der das Leben verändert ein normales Leben zu führen. «Aber es gibt immer noch Tage, zum Beispiel Weihnachten, an denen ich noch trauere.»

Selina Bischof besuchte vier Jahre lang eine Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. «Das hat mir sehr geholfen. Ohne die tolle Therapeutin hätte ich jetzt nicht das Leben, das ich habe.» Trotzdem habe sie sich nicht immer verstanden gefühlt – weder von der Familie, bei der sie nach dem Tod ihrer leiblichen Eltern lebte, noch von ihrem ein Jahr älteren Bruder. Er habe ganz anders getrauert als sie, seine Trauer sei für sie unsichtbar geblieben. «Ich dachte, ich sei die Einzige auf der Welt, die von den vielen Gefühlen überwältigt wurde. Ich fühlte mich sehr einsam Einsamkeit «Nur wenige sind zum Einsiedler geboren»

Bald 15 Jahre nach der Katastrophe in ihrem Leben stiess Bischof durch Zufall auf eine Selbsthilfegruppe für Waisenkinder. Da sei ihr erst richtig bewusst geworden, dass es noch andere gibt, die Ähnliches durchmachen. Sie treffen sich alle paar Monate in der kleinen Gruppe. Und reden über alles, nicht nur über die verstorbenen Eltern. «Es hilft einfach, zu spüren, dass das Gegenüber weiss, wie man sich fühlt. Der Tod unserer Eltern verbindet uns.»
 

Wenig Fingerspitzengefühl

Sehr schwierig sei der Umgang mit den Behörden gewesen, erzählt Bischof. Angefangen beim Überbringen der Todesnachricht Erziehung Mit Kindern trauern . Ein Polizist habe sie und ihren Bruder abgeholt und nur gesagt, sie müssten ins Spital, ihrer Mutter sei etwas passiert. «Ich dachte natürlich, sie lebe noch und wir würden sie besuchen.» Bis sie dann vor dem Schild «Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie» standen. «Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hätte mir eine ehrlichere und einfühlsamere Kommunikation gewünscht.»

Auch als es um ihre Wohnsituation ging, fühlte sich Bischof mangelhaft unterstützt. «Mein ganzes Umfeld war überfordert mit der Situation. Das hat wiederum mich verunsichert.» Mit der Zeit sei es besser geworden. Sie habe dank dem Umzug zu einer Bekannten und auch dank ihrer Therapeutin wieder Halt gefunden. «Eine bessere Schulung der Personen um mich herum hätte es für mich aber leichter gemacht.»

Auch Therapeutin Michèle Widler fordert mehr Aufklärung und eine bessere Ausbildung für Betreuungspersonen. «Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Beamte – alle, die mit den betroffenen Kindern zu tun haben, sollten vermehrt Weiterbildungen zur Trauerbegleitung machen.» Die Art, wie man mit Betroffenen über die Verstorbenen und den Tod spreche, beeinflusse den Trauerprozess massgeblich.

«Amanda hat gelernt, dass Rafael nicht mehr auf der Erde ist und trotzdem immer zu unserer Familie gehören wird», sagt Laura Auf der Maur. Und mit Überzeugung sagt das Mädchen: «Mein Bruder ist ein Teil von mir, und ich bin ein Teil von ihm. Rafael ist immer bei mir.»


*Name geändert
 

Weiterführende Informationen


Buchtipps

  • Britta Teckentrup: «Der Baum der Erinnerung»; Ars Edition, 2013, 32 Seiten, Fr. 24.90, für Kinder ab vier und für Erwachsene
  • Ayse Bosse, Andreas Klammt: «Weil du mir so fehlst. Dein Buch fürs Abschiednehmen, Vermissen und Erinnern»; Carlsen, 2016, 64 Seiten, Fr. 26.90, für Kinder zwischen vier und zehn
  • Roland Kachler: «Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit»; Herder, 2017, 192 Seiten, Fr. 31.90, für Erwachsene
  • Chris Paul: «Warum hast du uns das angetan?»; Random House, 2018, 248 Seiten, Fr. 31.90, für erwachsene Trauernde nach einem Suizid
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