Und plötzlich werden Ferien möglich
Sommerzeit ist Reisezeit – wenn man es sich leisten kann. Damit auch Menschen am Existenzminimum ihre Batterien aufladen können, springt die Stiftung SOS Beobachter ein.
Eine kleine Reise mit Thomas Diethelms Töchtern hat die Familie wieder zusammengeschweisst.
Rührei zum Frühstück, nachmittags eine sanfte Meeresbrise auf der Haut und abends mit einem Gelato in der Hand durch die Gassen der Altstadt schlendern – Ferien sind einfach herrlich! Und so normal. Mit dem, der Ende Sommer keine Story von einer halsbrecherischen Taxifahrt, einem geklauten Portemonnaie oder dem krassesten Sonnenbrand aller Zeiten auftischen kann, muss irgendetwas nicht stimmen.
Thomas Diethelm sitzt vor seiner kleinen Parterrewohnung am Gartentisch, rührt im Kaffee und lächelt wehmütig. Früher hatte auch er solche Geschichten auf Lager. Mit seiner Frau, den beiden Töchtern und Dalmatiner-Pointer-Mischling Jack verbrachte er die Sommerferien vorzugsweise auf Campingplätzen. Heute ist das anders. Ferien kann er sich nicht mehr leisten. «Ich kann meinen Kindern nichts bieten», sagt er.
Mit seiner kräftigen Statur und den Tattoos wirkt der frühere Thaiboxer nicht gerade zerbrechlich. In seinem Inneren sieht es anders aus. Seit seiner Jugend kämpft der 48-Jährige mit psychischen Problemen. Mit 20 kam er erstmals in eine psychiatrische Klinik – einen Tag vor dem Start der Rekrutenschule und einen Tag nach dem Suizid seiner Schwester. Schizophrenie lautete die Diagnose. Sie war falsch.
Verlorene Zeit mit den Töchtern aufholen
Erst 15 Jahre später stellte sich heraus, dass er an einer bipolaren Störung leidet. Extreme Stimmungsschwankungen prägen diese psychische Erkrankung. Auf Phasen schwerer Depressionen folgen euphorische Hochs: «Es kam vor, dass ich in einer Manie den ganzen 13. Monatslohn an einem einzigen Tag ausgab.»
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – so lebte Diethelm jahrelang. Mal besser, mal schlechter, mal mit IV-Rente, mal ohne. Für seine Ehe wurde das ständige Auf und Ab irgendwann zu viel. Im Sommer 2023 trennten seine Frau und er sich nach 20 Jahren. «Ein Vernunftentscheid», sagt er. Dennoch riss ihm die Scheidung den Boden unter den Füssen weg. Nach dem Auszug aus der Familienwohnung verbrachte er ein halbes Jahr in der Klinik. Seine Töchter, heute 12 und 15 Jahre alt, sah er in dieser Zeit kaum.
«Aus der Sicht meiner Töchter war ich plötzlich aus ihrem Leben verschwunden.»
Thomas Diethelm, Aushilfs-Gemeindearbeiter und IV-Rentner
Als er entlassen wurde, quälte ihn ein schlechtes Gewissen. Er fürchtete, seine Töchter dächten, ihm liege nichts an ihnen. «Aus ihrer Sicht war ich plötzlich aus ihrem Leben verschwunden.» Er wollte die verlorene Zeit aufholen, ein paar Tage mit ihnen verreisen, ihnen alles erklären.
Das Problem: Sein Budget liess das nicht zu. Fixkosten wie Wohnungsmiete, Versicherungsprämien, Steuern, Alimente fressen den Grossteil seiner IV-Rente weg. Der Aushilfsjob als Gemeindearbeiter bringt mit 16 bis 20 Stunden pro Monat kaum Entlastung. Ferien, und seien es bloss ein paar Tage im Tessin, liegen nicht mehr drin.
Sind Ferien Luxus?
Dass er im vergangenen Herbst schliesslich doch mit seinen Töchtern auf der Piazza Grande in Locarno Cola trinken, abends im Restaurant essen und ihnen in einem Souvenirladen kleine Glücksbringer kaufen konnte, verdankt er seiner Beiständin. Diese stellte ein Gesuch bei der Stiftung SOS Beobachter – und die ermöglichte die viertägige Auszeit.
SOS Beobachter – wie funktioniert die Hilfe?
«Wir prüfen jedes Gesuch individuell und schliessen im Voraus eigentlich fast nichts aus», sagt Beat Handschin, Geschäftsführer von SOS Beobachter. So komme es vor, dass die Stiftung auch Ferien oder Ausflüge bezahle. Ist das nicht Luxus? Die Frage sei berechtigt: «Bei vielen Gesuchen handelt es sich tatsächlich um Wünsche und keine Notlagen im Sinn unseres Stiftungszwecks», sagt Beat Handschin. «Diese lehnen wir ab.»
Durchatmen in belastenden Situationen
Es gibt aber Ausnahmen: Familien in belastenden Verhältnissen, die ohne Alltagsstress endlich einmal durchatmen können sollen. Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen eine Auszeit benötigen, für die keine Krankenkasse aufkommt. Oder Armutsbetroffene, die ohne betreute Ferien sozial noch stärker ausgegrenzt wären. In solchen Fällen sind Ferien kein Luxus, sondern ein Stück Normalität – ein Lichtblick.
Ein solcher ist manchmal auch einfach eine Zahl. Zum Beispiel 414. So viele Treppenstufen führen auf den Glockenturm des Doms in Florenz. Liliane Schädeli hat sie nicht gezählt, als sie den Turm im letzten Frühling bestieg.
Doch sie hat nachträglich recherchiert – für ihren Reisebericht, aus dem sie nun vorliest. Sie streicht mit der Hand über die laminierten Seiten, geht Tag für Tag durch. Am Montag der Ponte Vecchio, am Dienstag die David-Statue von Michelangelo, am Mittwoch eine Pizza Margherita in der berühmten Trattoria Zaza. «Sehr lecker!»
Pizza, Dom und David-Statue: Liliane Schädeli hat jeden Augenblick ihrer Florenz-Reise genossen.
Wenig Hilfe kann viel bewirken
Liliane Schädeli reiste mit einer Gruppe von etwa 15 Personen nach Florenz. Alle leben in einer Berner Einrichtung für Menschen mit psychischen Problemen oder Suchterkrankungen – eine Art betreute Wohngemeinschaft. Jedes Jahr organisiert die Institution eine Ferienreise mit Begleitung, finanziert durch Spenden. Doch einige Hundert Franken müssen die Teilnehmenden selbst beisteuern. Nicht alle können sich das leisten.
Liliane Schädeli lebt von IV und Ergänzungsleistungen. Geld für Ferien bleibt keines übrig. Dabei brauchte sie die Auszeit dringend. Nach eineinhalb Jahren im betreuten Wohnen stand der Umzug in ein eigenes, kleines Studio bevor. Ein grosser Schritt für die 33-Jährige.
«Gerade Menschen in psychisch oder sozial schwierigen Situationen tanken in einer Auszeit neue Kraft und Zuversicht.»
Beat Handschin, Geschäftsführer SOS Beobachter
Sie leidet seit ihrer Kindheit an Depressionen und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, verbrachte viel Zeit in Kliniken. Allein zu sein, fällt ihr schwer. Vor dem Umzug kreisten ihre Gedanken nur noch um die Züglete. «Dank der Reise nach Florenz konnte ich abschalten, durchatmen und Kraft schöpfen», sagt sie. Ihren Reisekostenanteil übernahm SOS Beobachter – und trug damit vielleicht ein kleines Stück dazu bei, dass der Umzug reibungslos vonstattenging.
Beim Prüfen der Gesuche achtet die Stiftung darauf, ob die Hilfe langfristig und nachhaltig etwas bewirken kann. «Gerade Menschen in psychisch oder sozial schwierigen Situationen tanken in einer Auszeit neue Kraft und Zuversicht», sagt Geschäftsführer Beat Handschin. Das sei oft der erste Schritt zu einem Richtungswechsel oder Neuanfang.
Dank erwarte die Stiftung nicht. «Wir erhalten aber immer wieder schöne Rückmeldungen, manchmal auch Postkarten.» Sie zeigen: Wenig Hilfe kann viel bewirken.
Mit dabei in Florenz war auch Fabio Sanna. Der 47-jährige gebürtige Italiener ist suchtkrank. Auch er lebt mit Unterbrüchen seit mehreren Jahren im betreuten Wohnen. Der gelernte Sanitärinstallateur bezieht eine IV-Rente. An zwei Tagen pro Woche arbeitet er im geschützten Rahmen in einer Schreinerei.
«Als Italiener fahre ich natürlich besonders gern nach Italien», sagt Fabio Sanna.
Irgendwie schaffte er es immer, Geld für die gemeinsame Ferienreise zusammenzukratzen. Nur letztes Jahr klappte es nicht. «Ich weiss nicht genau, warum. Das Finanzielle regelt meine Beiständin. Jedenfalls bleibt am Monatsende nichts übrig», sagt er.
«Der Tapetenwechsel tut gut und gibt wieder Energie für den Alltag.»
Fabio Sanna, gelernter Sanitärinstallateur und IV-Bezüger
Klar ist: Ihm bedeuten diese Ferien mit den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern viel. «Die Stimmung ist locker, der Tapetenwechsel tut gut und gibt wieder Energie für den Alltag. Und als Italiener fahre ich natürlich besonders gern nach Italien», sagt er und grinst verschmitzt. SOS Beobachter ermöglichte ihm diese Reise und übernahm seinen Reisekostenanteil.
Fabio Sanna erinnert sich an die Sehenswürdigkeiten, vor allem aber – typisch Italiener – ans Essen. «Am besten war das Frühstück in einem Café, das wir zufällig entdeckt haben. Es gab jeden Tag Müesli, Rührei, Pancakes, Smoothies – wir wurden richtig verwöhnt», schwärmt er.
«Das hat uns einander wieder nähergebracht und uns zusammengeschweisst.»
Thomas Diethelm, Aushilfs-Gemeindearbeiter und IV-Rentner
Es sich gut gehen lassen, die Alltagssorgen vergessen, einfach geniessen – so ähnlich war es auch für Thomas Diethelm und seine beiden Töchter im Tessin. Doch die vier Tage am Lago Maggiore waren mehr als nur Erholung. «Das hat uns einander wieder nähergebracht und uns zusammengeschweisst», sagt er. Seine Töchter verbringen nun jedes zweite Wochenende bei ihm. Viermal pro Woche bekocht er sie ausserdem über Mittag. Und das fühlt sich fast ein wenig an wie früher: «Gemeinsam essen, das war für unsere Familie schon immer wichtig. Es verbindet.»
Ferien verbinden – das konnte Thomas Diethelm dank der Stiftung SOS Beobachter erfahren.