Wo bleibt Pfarrer Sieber? Die Gaststube des «Dörfli» ist menschenleer an diesem Dienstagmorgen. Sieber selbst hat sich diesen Ort für das Interview ausgesucht. Gegenüber, auf der anderen Strassenseite, thront die kalkweisse evangelische Kirche von Uitikon Waldegg. Dort bestieg Sieber Ende der fünfziger Jahre zum ersten Mal eine Kanzel. Damals ein unbekannter junger Mann. Gerade 30 geworden, Bauernknecht, Theologiestudium auf dem zweiten Bildungsweg, erste Festanstellung als reformierter Pfarrer.

Das sind die Wurzeln des berühmtesten Pfarrers der Schweiz. Heute kann er nicht nach Uitikon Waldegg kommen. Er ist erkrankt, teilt seine Sekretärin am Telefon mit.

Millionenprojekt für die Randständigen

Im Februar hat Sieber seinen 90. Geburtstag gefeiert. Er hat noch viel vor. In Zürich-Affoltern will seine Stiftung im «Sieber-Huus» einige ihrer bestehenden Hilfsinstitutionen in einer grossen Überbauung zusammenfassen. Als Bauherrin ist die reformierte Kirche vorgesehen. Siebers Stiftung will sich mit elf Millionen Franken am Innenausbau des 35-Millionen-Projekts beteiligen. Ab Herbst 2021 soll der Neubau den «Sune-Egge», den «Sunegarte», die Siedlung «Brothuuse» und die Administration der Stiftung beherbergen. Der «Sune-Egge» ist ein Spital für Suchtkranke, der «Sunegarte» die dazugehörige Pflegestation. «Brothuuse» bietet Randständigen Wohnmöglichkeit und Betreuung.

Schlagzeilen machte Sieber zum ersten Mal im Winter 1963/64. Eine Kältewelle hatte die Schweiz seit Wochen im Griff, der Zürichsee war zugefroren, die Seegfrörni. Sieber übernahm die Betreuung der Obdachlosen im Kriegsbunker am Zürcher Helvetiaplatz. «Ein Stück Himmelreich» wolle er zu Weihnachten hier unten verwirklichen, sagte er in einem eindringlichen Spendenappell in der Sendung «Antenne» im Schweizer Fernsehen. Schon damals spickte er seine Rede mit Bibelsprüchen und Jesuszitaten.

«Ich habe über die Natur zum Glauben gefunden.»

 

Ernst Sieber, Pfarrer

Jesus ist Siebers grosses Vorbild. Ihm versucht er nachzuleben, seiner Lehre der Nächstenliebe und Solidarität. Wer die Fernsehbilder des Pfarrers sieht, wie er mit Schlapphut und im langen Mantel in bitterkalten Nächten durch Zürichs Strassen streift, Randständige und Obdachlose mit Namen begrüsst, herzlich in die Arme schliesst, wie er mit ihnen kocht, singt und Weihnachten feiert, ertappt sich mehr als einmal bei dem Gedanken, dass Sieber seinem Vorbild wohl sehr nahe kommt.

Wenn Journalisten ihn nach den Wurzeln seines Glaubens fragen, führt er sie zu einer mächtigen Linde auf dem Hirzel, einem kleinen Pass, der Wädenswil ZH mit Sihlbrugg ZG verbindet. Hier ist er aufgewachsen, «im Paradies», wie er sagt, zwischen Himmel und Erde, als Hirte inmitten einer weidenden Herde. Hier habe er vor einer Blume gekniet. «Ich habe über die Natur zum Glauben gefunden», sagt er in einem Dokfilm von SRF. «Der Showman von Gottes Gnaden» haben die Macher den Film getitelt.

«Immer wieder einen Fünfliber»

Sieber störte sich nicht daran. Sein Lehrer habe ihm seinerzeit nur einen Beruf zugetraut: Schauspieler. Die Lust am Komödiantischen zieht sich durch seine ganze Laufbahn. «Immer wieder/ gibts beim Sieber/ einen Fünfliber», singt er bestens gelaunt gemeinsam mit seinen Schutzbefohlenen in Zürichs Strassen.

Einmal spricht er ein ganzes «Wort zum Sonntag» auf Stelzen, sinnbildlich für das Streben des Menschen nach Aufstieg, Geld und Macht. Ein andermal tritt er als Strassenwischer auf, um seine Solidarität mit den Benachteiligten der Gesellschaft zu zeigen. «Der Mann hat Rampensau-Qualitäten. Er könnte Stand-up-Comedian sein», sagt Christoph Zingg, Gesamtleiter der Stiftung.

Sieber macht keine Kompromisse und scheut keine Grenzen. In den achtziger Jahren ist er einer der wenigen, die sich um die Drogenabhängigen auf dem Platzspitz und am Letten in Zürich kümmern. Dort herrschten damals Zustände wie im Elendsquartier einer Drittweltmetropole. Bis zu 5000 Menschen versorgten sich im «Needle Park» mit Heroin, spritzten, dealten, verkauften Hehlerware oder prostituierten sich. Während sich andere empörten, gründete Sieber den «Sune-Egge», das Spital für Suchtkranke.

«Meine Frau Sonja ist meine Seele, das Zentrum meiner Existenz.»

 

Ernst Sieber, Pfarrer

«Taten statt Worte» lautet das Motto von Siebers Stiftung. Sie vereint heute 13 Einrichtungen und Angebote unter ihrem Dach und beschäftigt 170 Mitarbeitende und rund 100 Freiwillige. Siebers Sinn fürs Praktische zeigt sich beim Angebot des Gassentierarztes. Viele Obdachlose haben als einzigen Partner ein Tier an ihrer Seite. Für den Tierarzt fehlt aber vielen das Geld. Der Gassentierarzt sorgt kostenlos dafür, dass die Tiere gesund bleiben.

Ohne seine Frau Sonja, mit der er seit 60 Jahren verheiratet ist, hätte er das nicht alles geschafft. «Sie ist meine Seele, das Zentrum meiner Existenz», betont er immer wieder. Vier eigene und vier angenommene Kinder haben die beiden grossgezogen.

Seine Familie ist ihm wichtig. Im Februar liess er einen öffentlichen Gottesdienst zu seinen Ehren im Zürcher Grossmünster mit anschliessendem Fest auf unbestimmte Zeit verschieben mit der Begründung, man habe seinen randständigen Brüdern und Schwestern sowie seiner Familie eine zu wenig tragende Rolle am Fest eingeräumt.

Ein Gegenüber auf Augenhöhe

Streitbar wie immer. Und es gehe ihm inzwischen auch gesundheitlich wieder besser, teilt seine Sekretärin mit, er sei wieder unterwegs.

Auch mit 90 Jahren besucht Pfarrer Sieber gelegentlich den «Pfuusbus», jene Institution, die wie keine andere mit seiner Person verbunden ist. Ein Sattelschlepper am Stadtrand von Zürich mit 40 Plätzen für Notübernachtungen. Wer kein Bett für die Nacht hat, findet hier eins – und noch viel mehr: ein Gegenüber, das ihm auf Augenhöhe begegnet.

«Menschenwürde», sagt Pfarrer Sieber, «ist das Wichtigste.»

«Wir Menschen müssen vom Salatkopf lernen»

Am 17. November wird der bekannteste Pfarrer der Schweiz, der Zürcher Ernst Sieber, mit dem Prix-Courage-Lifetime-Award des Beobachters für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Sein ganzes Wirken hat er in den Dienst am Menschen gestellt.Wie schafft man es, jahrzehntelang für eine bessere Welt zu kämpfen, der Kälte der ökonomischen Zwänge mit der Wärme des Herzens zu begegnen?

Ernst Sieber: Prix Courage

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Am 17. November wird der bekannteste Pfarrer der Schweiz, der Zürcher Ernst Sieber, mit dem Prix-Courage-Lifetime-Award des Beobachters für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Sein ganzes Wirken hat er in den Dienst am Menschen gestellt. Wie schafft man es, jahrzehntelang für eine bessere Welt zu kämpfen, der Kälte der ökonomischen Zwänge mit der Wärme des Herzens zu begegnen?
Quelle:  

Prix Courage 2017 – Die Kandidaten
 

  • Nora Furer
    ... hat eine Frau aus einem brennenden Haus gerettet.
     
  • Erwin Hammer
    ... hat eine schützenswerte Landschaft verteidigt.
     
  • Natalie Burlet
    ... hat zwei Waisenheime in Burkina Faso gegründet.
     
  • Mustafa Karasahin
    ... hat ein Mädchen vor dem einfahrenden Zug gerettet.
     
  • Monika Bosshard
    ... wird einer Zufallsbekanntschaft eine Niere spenden.
     
  • Remo Schmid
    ... hat eine Frau vor einem Gewalttäter gerettet.
     
  • Muriel Pestalozzi
    ... hat Missstände im Statthalteramt aufgedeckt.
     
  • Philippe Viau
    ... hat einen Mann aus der reissenden Aare geborgen.