Ist der Verkehr in den Städten unsicherer geworden? Der Beobachter hat vier Fachleute gebeten, ihre Einschätzung abzugeben.

Der Tramfahrer

Heinz Schulthess, Präsident des Berufsverbandes Transfair, Zürich

Wir Tramfahrer müssen immer 100 Prozent konzentriert sein. Als die Stärksten im Verkehr denken wir ständig voraus und planen für alle Eventualitäten. Jeden Fussgänger und jede Velofahrerin, jedes Auto müssen wir im Blick haben und es allen recht machen. Einfach ist das nicht. Das Tram ist immer mehr gefangen in einem Verteilkampf um den Platz auf den Strassen. Dort, wo zum Beispiel – mit guten Absichten – mehr Platz fürs Velo gemacht wird, weicht das Auto halt auf die Tramschienen aus. Da fehlt mir in der Verkehrsplanung etwas das Konzept. Das Klima auf der Strasse ist dadurch in den 17 Jahren, in denen ich jetzt schon Tramführer bin, rauer geworden und die Aggressionsschwelle gesunken.

Mehr Gelassenheit würde, denke ich, allen Verkehrsteilnehmern guttun – sich einmal weniger noch schnell vorne reindrücken. Wenn es dann trotz aller Vorsicht einen Unfall gibt, trifft uns das sehr, auch wenn es Einzelfälle sind. Die Stimmung im Tramdepot ist plötzlich nachdenklich und gedämpft. Alle sind im Kopf bei den Angehörigen der Opfer und den Kolleginnen und Kollegen. Einige haben aufgehört – der ständige Stress im Verkehr und die Sorgen waren zu viel für sie, und das verstehe ich gut. Ich würde den Job trotzdem nicht an den Nagel hängen. Ich bin überzeugt von dem, was ich mache, und stolz darauf: etwas für die Umwelt und für die Öffentlichkeit. 

Der Fussgänger

Pascal Regli, Geschäftsleiter von Fussverkehr Schweiz, Zürich

Als Fussgänger bin ich einer der Schwächsten im Verkehr. Werden wir angefahren, endet es schnell böse. Da würde ich mir von allen mehr Rücksicht und Verständnis wünschen: Zu Fuss gehen ist doch die grundlegendste Form von Mobilität, die einzige, die allen offensteht. Auch denen, die zu jung oder zu alt sind, um mit dem Auto zu fahren. Und das sind eben oft auch die besonders verletzlichen. Und zumindest ab und zu sind wir ja alle Fussgängerinnen und Fussgänger. Nur vergisst man diese Perspektive schnell, wenn man im Auto sitzt.

«Ab und zu sind wir ja alle Fussgänger. Nur vergisst man diese Perspektive schnell, wenn man im Auto sitzt.»

Viele Autolenkende verlangsamen zum Beispiel am Zebrastreifen nur, anstatt anzuhalten. Wenn Kinder dann nicht rechtzeitig drüberlaufen, ärgern sich die Fahrer. Dabei wird doch den Kindern in der Schule beigebracht, zur Sicherheit zu warten, bis das Auto ganz stillsteht – und kein Mami oder Papi würde das fürs eigene Kind anders wollen.

Trotzdem fühle ich mich sicher zu Fuss, vielleicht auch weil ich die Zahlen kenne. Wenn man berücksichtigt, wie viel Zeit Fussgänger im Verkehr verbringen, dann werden wir sogar am wenigsten von allen in Unfälle verwickelt. Zu Fuss gehen, das ist für mich ausserdem die schönste aller Fortbewegungsarten – man sollte es geniessen. Einmal pro Woche gehe ich zu Fuss zur Arbeit, rund eineinhalb Stunden dauert ein Weg. Zeit, in der ich die Stadt wahrnehmen und abschalten kann – was die Autofahrerin kaum kann. Sie nervt sich über jede Ampel, jeden Stau, jedes langsame Velo. 

Der Autofahrer

Daniel Seiler, Geschäftsführer ACS beider Basel, Grossrat FDP Basel-Stadt

Ich habe in meiner Schulzeit noch gelernt: luege, lose, laufe. Heute denke ich manchmal, es ist nur noch das «laufe» geblieben. Ich beobachte oft, wie Leute durch die Strassen eilen, die Augen am Bildschirm, Kopfhörer in den Ohren und weniger vorsichtig als früher. Das fordert heraus: Man muss im Auto immer achtsam sein. An jeder Kreuzung schaue ich links und rechts: Kommt da noch einer von hinten? Mittlerweile muss man leider mit fast allem rechnen – nicht nur mit dem, was noch halbwegs erlaubt ist.

« Ich beobachte oft, wie Leute durch die Strassen eilen, die Augen am Bildschirm, Kopfhörer in den Ohren.»

Besonders heikel sind die Kreisel, wenn die Einfahrt verengt wird und alle zusammenrücken müssen. Schaut man auf den Velofahrer rechts, kommt links einer daher. Es steht ja schliesslich nirgends ein Schild mit der Aufschrift «Bitte hier keine Autos überholen». Auch in Einbahnstrassen hatte ich schon Schockmomente: Da erwarte ich beim Linksabbiegen niemanden neben mir, auf den ich achten muss – auch kein Velo. Was es unbedingt braucht, ist ein gutes Miteinander, sich auch mal in die Perspektive des anderen versetzen – von den Autofahrerinnen natürlich genauso wie von Fussgängern und Velofahrerinnen. Für mich ist zum Beispiel klar, dass ich auf dem Velo beim Abbiegen ein Handzeichen gebe.

Auch die Verkehrsanordnung führt zu Konflikten. Früher wollte man den Verkehr entflechten: Autos auf die Hauptachsen, Velos in die Quartiersträsschen – und alles möglichst schnell durch die Stadt bewegen. Heute ist es umgekehrt: Man zieht zusammen und verlangsamt gezielt, um die Autofahrer aus der Stadt zu vertreiben. Dem Frieden im Verkehr tut das kaum gut. 

Die Velofahrerin

Bettina Maeschli, Vorstandsmitglied Pro Velo Kanton Zürich

Ich hatte zum Glück noch nie einen schweren Velo-Unfall in der Stadt – gesehen habe ich das aber schon. Einmal bin ich an eine Unfallstelle herangefahren, wo eine junge Frau unter einen Lastwagen gekommen ist. So etwas bleibt natürlich, das macht betroffen. Mit Angst fahre ich deshalb aber nicht durch die Stadt, im Gegenteil: Ich liebe das Velofahren – trotz aller Hindernisse. Entscheidend ist – für alle unterwegs – volle Konzentration. Ich denke immer voraus, suche Blickkontakt mit anderen und rechne damit, dass diese auch mal einen Fehler machen.

«Ich denke immer voraus, suche Blickkontakt mit anderen und rechne damit, dass diese auch mal einen Fehler machen.»

Wirklich unangenehm ist zu knappes Überholen, das ist für die verletzliche Velofahrerin einfach bedrohlich. Am meisten Ärger habe ich aber nicht mit Autofahrerinnen oder Fussgängern, sondern mit den Strassen selbst. Die Infrastruktur fürs Velos ist und bleibt in Zürich ein abenteuerlicher, lückenhafter Flickenteppich. Es gibt Velovorzugsrouten, die enden in unübersichtlichen Bahnhofskreuzungen. Da weiss man als Velofahrerin beim besten Willen nicht, wo es weitergehen soll: zwischen den Tramgleisen, auf der Fussgängerinsel oder doch den Autospuren? Was es dringend braucht und allen helfen würde, ist eine Entflechtung der Verkehrsteilnehmer, allen ihren eigenen Platz geben. Bis es so weit ist, müssen wir alle aufeinander achtgeben und uns in Gelassenheit üben.