Ein Medikament, das auf einen Schlag 500'000 Schweizer Migräniker von ihren Leiden befreien kann? Glaubt man den Studien der Firma Novartis, so gibt es das seit Sommer 2018. «Endlich Hilfe gegen Migräne!» oder «Ein Schlag gegen Migräne»: So euphorisch titelten verschiedene Medien, als die Aufsichtsbehörde Swissmedic dem Basler Pharmariesen die Zulassung für das Migräne-Medikament Aimovig erteilte.

Laut Studien der Universität Zürich sind etwa 11 Prozent der Bevölkerung von Migräne betroffen. Und die Krankheit verursacht beträchtliche Kosten: rund 300 Millionen Franken jährlich. Über 250 Millionen Franken fallen dabei durch indirekte Kosten wie etwa Arbeitsausfälle Arbeitsrecht Krankgeschrieben – was heisst das? an. Nun würde eine einzige Spritze im Monat reichen, um bei rund der Hälfte der Betroffenen die Zahl der monatlichen Migränetage zu halbieren, oder teils gar ganz zum Verschwinden zu bringen. Klingt fast so, als habe Novartis ein neues Wundermittel erfunden. Doch ist es das tatsächlich?

Bisher sind keine Nebenwirkungen bekannt

Einer, der fast euphorisch von den Erfolgen des neuen Medikaments spricht, ist der Zürcher Neurologe Reto Agosti. «Bei Patienten mit chronischer Migräne Migräne Sport als Prophylaxe ist Aimovig für mich tatsächlich ein Wundermittel», sagt er. «Denn es hat eine sehr gute Wirksamkeit und keine Nebenwirkungen.»

Der Kopfschmerz- und Migränespezialist der Zürcher Hirslanden Klinik beteiligte sich ab 2016 mit sieben Patienten an der Zulassungsstudie von Novartis. «Bei fünf bis zehn Prozent aller weltweiten Studienteilnehmer gingen die Migräne-Attacken dank Aimovig ganz auf null zurück – das ist schlicht genial!»

«Selbst ich als Arzt tappte im Dunkeln, welche Testpersonen das richtige Medikament erhielten.»

Reto Agosti, Kopfschmerz-Spezialist Hirslanden Klinik Zürich

 

Ein Teil seiner sieben Patienten erhielt in der Blindstudie Klinische Versuche Tests mit Nebenwirkungen ein Placebo, der andere Teil den in Aimovig enthaltenen Wirkstoff Erenumab. «Da beide Testgruppen keinerlei Nebenwirkungen zeigten, tappte auch ich als Mediziner im Dunkeln, wer tatsächlich das Medikament erhielt. So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt Agosti. Meist merke man als Arzt anhand der Nebenwirkungen schnell, welche Person in der Wirkstoff- und welche in Placebo-Gruppe ist.

Werden Migräniker ein Leben lang auf Spritzen angewiesen sein?

Aber Agosti relativiert auch: Wegen seiner Wirkungsweise hilft Aimovig nicht allen Patienten – nämlich nur jenen, bei denen die Migräne durch den Botenstoff Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) ausgelöst wird (siehe Infobox «So wirkt Aimovig»). Eine Hemmschwelle für Patienten kann auch sein, dass das Medikament regelmässig unter die Haut gespritzt werden muss. Dies passiert mit einem Pen, ähnlich wie ein Insulin-Pen für Diabetiker Diabetes Haben Sie «den Zucker» im Griff? .

Obwohl der Antikörper unter die Haut gespritzt wird, ist die Therapie nicht zu verwechseln mit einer Impfung. «Um die Wirksamkeit sicherzustellen, muss Aimovig alle 30 Tage gespritzt werden», sagt Agosti. Das Medikament kann die Migräne also nicht heilen, sondern es bremst lediglich den Entstehungsprozess der Attacken aus.

«Manchmal begünstigt die Angst vor einer Migräne-Attacke diese noch.»

Reto Agosti, Neurologe

 

Werden Migräne-Patienten also künftig – ähnlich wie Diabetiker – ein Leben lang ständig auf Spritzen angewiesen sein? Das werde individuell sehr unterschiedlich sein, vermutet Agosti. «Wir hatten Patienten, die bereits während der eineinhalbjährigen Studie Aimovig wieder ganz absetzen konnten, weil sie auch ohne Spritze keine Migräne-Anfälle mehr hatten.»

Denn manchmal sei die Migräne ein derart gefürchtetes Schreckgespenst, dass die Angst vor einer erneuten Attacke diese sogar noch begünstige. Hier könne das Medikament festgefahrene Blockaden lösen. Ob die Patienten das Medikament währen 6 Monaten, zwei Jahren oder für den Rest des Lebens spritzen, hänge denn auch stark mit der eigenen Risikobereitschaft zusammen. Oder mit den finanziellen Mitteln, die ein Migräniker unter Umständen bereit ist, aus dem eigenen Sack zu berappen.

Das Migräne-Medikament Aimovig von Novartis.

Muss alle 30 Tage gespritzt werden: Das Migräne-Medikament Aimovig.

Quelle: ZVG
Aimovig und Emgality sind sehr teuer

Denn seit Herbst 2018 steht Aimovig zwar auf der Spezialitätenliste des Bundesamtes für Gesundheit, sprich, es muss von den Krankenkassen vergütet werden. Die Bestimmungen, wann die Versicherungen die Behandlungskosten übernehmen, sind sehr streng. Die Patienten müssen mit einer lückenlosen Dokumentation beweisen, dass sie während mindestens drei Monaten an 15 Tagen pro Monat unter schweren Migräneanfällen leiden oder an mindestens acht Tagen im Monat eine Migräne mit Aura (Lichtempfindlichkeit, Übelkeit und Erbrechen) leiden. Zudem müssen Betroffene nachweisen können, dass mindestens zwei andere Therapiearten wirkungslos waren.

Und die Ärzte dürfen Aimovig oder das Konkurrenzprodukt Emgality des Pharmariesen Eli Lilly nur während jeweils 12 Monaten verschreiben. Danach müssen die Patienten erneut mit einer Dokumentation beweisen, dass sie unter chronischer Migräne leiden.

Dass die Auflagen so streng sind, hat aus Sicht der Krankenkassen einen guten Grund: Eine Monatsspritze von Aimovig oder Emgality kostet 616.20 Franken. Wie viele Packungen der beiden Medikamente bislang verkauft wurden, ist laut Interpharma noch nicht bekannt.

Aimovig kostet 30 mal so viel wie Betablocker

Weitaus günstiger sind da die herkömmlichen Therapien: Bislang verschrieben Ärzte ihren Migräne-Patienten  Antidepressiva für rund 15 Franken pro Monat oder Betablocker für rund 20 Franken pro Monat – Medikamente, die 30 mal weniger kosten wie Aimovig. Betablocker sind Medikamente, die bei Bluthochdruck oder bei Herzleiden verschrieben werden. Zur Behandlung einer akuten Attacke erhalten Migräniker meist Triptane, die gefässverengend und schmerzlindernd wirken.

Bis aber die richtige Therapie und Dosierung gefunden ist, können Wochen vergehen, in denen die Patienten immer wieder von Migräne-Anfällen geplagt werden. Und selbst wenn ein Medikament gefunden ist, das dem Patienten hilft: ganz weg sind die Migräne-Anfälle meist trotzdem nicht.

Betablocker bringt Linderung – aber die Migräne bleibt

So erging es auch Céline Christen*. Die 28-jährige Aargauerin leidet seit ihrer Kindheit unter Migräne. Während ihrer Schulzeit Kopfschmerzen Jedes zehnte Kind hat Migräne und im Gymnasium konnte sie mit den Attacken relativ gut umgehen – sie arbeitete den verpassten Stoff einfach später nach. «Aber mit dem Übertritt ins Jura-Studium begann die Migräne mich erstmals in meiner Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen.»

Eine Therapie musste her. «Ich habe erst mit sanften Methoden wie Akupunktur Akupunktur Nadelstiche als Wundermittel , Yoga oder Schröpfen begonnen, danach habe ich ein Antidepressivum genommen und bin schliesslich bei einer hohen Dosis Betablocker, in Kombination mit Magnesium und Triptanen für akute Situationen gelandet», erzählt sie.

Die medikamentöse Behandlung heisst für sie aber nicht einfach, dass die Migräne jetzt weg ist. «In den guten Phasen habe ich etwa alle zwei Monate einen starken Anfall, wo ich mich auch übergeben muss, in den schlechten Phasen habe ich trotz Medikamenten zwei bis drei starke Anfälle pro Woche.» Während eines starken Anfall muss die junge Juristin ihre Arbeitsstelle verlassen und sich für den Rest des Tages ins Bett legen. Manchmal auch zwei Tage am Stück.

«Irgendwann verliert man die Geduld»

Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder depressive Verstimmungen, wie andere Patienten sie vom Betablocker bekommen, hat Christen nicht. «Aber die Triptane führen bei mir zu leichten Lähmungserscheinungen im Gesicht und an den Händen, das ist sehr unangenehm.» Deshalb nehme sie das Medikament erst sehr spät und im äussersten Notfall, was eher kontraproduktiv sei.

«Es ist wohl nicht so leicht, das eine Wundermittel gegen Migräne zu entwickeln.»

Céline Christen, Migräne-Patientin

 

Über das neue Medikament habe sie kürzlich mit dem behandelnden Spezialisten des Kopfwehzentrums an der Hirslanden Klinik gesprochen. «Da ich zusätzlich zur Migräne unter Spannungskopfschmerzen leide, würde Aimovig alleine bei mir nicht ausreichen, um eine Besserung zu erreichen», sagt Christen. Da man die hohen Kosten derzeit noch selbst tragen müsse, komme es derzeit nicht in Frage.

«Und ich muss ehrlich gestehen: Wenn man schon fast jede erdenkliche Methode ausprobiert hat, verliert man irgendwann die Geduld, nochmals etwas Neues auszutesten», sagt die junge Frau. Es gebe halt so viele unterschiedliche Migräne-Arten, da sei es wohl nicht so einfach, das eine Wundermittel dagegen zu entwickeln.

Der Nutzen von Aimovig ist viel kleiner als propagiert

Und genau das ist einer der Punkte, an dem der profilierte Pharmakritiker Etzel Gysling einhakt. «Ich habe Zweifel, ob das Medikament tatsächlich das Wundermittel ist, als das es derzeit propagiert wird», sagt der Gründer der Zeitschrift «Pharma-Kritik». Ein gewisser Nutzen könne er dem Medikament nicht absprechen, «aber der ist weitaus bescheidener, als dies der Pharmakonzern darstellt.»

«Novartis hat ein grosses Interesse daran, dass Aimovig breit in der Öffentlichkeit diskutiert wird.»

Etzel Gysling, Pharma-Kritiker

 

Denn die Studien hätten nebst der Wirksamkeit auch gezeigt, dass es viele Patienten gibt, bei denen Aimovig nicht wirkt. «Aber Novartis hat ein grosses Interesse daran, dass das Medikament breit in der Öffentlichkeit diskutiert wird, weil zwei weitere Pharma-Firmen ein ähnliches Migräne-Medikament in der Pipeline haben», sagt der Hausarzt aus Wil (SG).

«Es fehlen die Langzeitstudien»

Gysling bemängelt vor allem die Methode, wie die Wirksamkeit des Medikaments geprüft wurde. «Dass es besser gewirkt hat als das Placebo ist ja schön und gut – aber es fehlt ein direkter Vergleich mit den bereits bestehenden Therapien.» Zudem fehlten bisher Langzeitstudien. «Man kann ohne Langzeitstudie zum heutigen Zeitpunkt nicht voraussehen, ob es über einen längeren Anwendungszeitraum zu ungewöhnlichen Infektionskrankheiten kommt oder Leberschäden entstehen», bemängelt der Pharma-Kritiker.

«Ist ein so hoher Preis gerechtfertigt für ein Medikament mit beschränktem Nutzen?»

Etzel Gysling, Hausarzt aus Wil

 

Dies hat deshalb bei Aimovig eine hohe Relevanz, als dass das CGRP-Eiweiss noch an weiteren Stellen im Körper eine Rolle spielt. Ob das Medikament auf Dauer hier zu Nebenwirkungen führen kann, ist noch nicht erforscht. «Ich stelle mir die Frage: Ist der hohe Preis gerechtfertigt für ein Medikament, dessen Langzeitwirkung nicht bekannt ist und das für Patienten nur einen beschränkten Nutzen hat?» Eine schwierige Frage, findet er. Er würde einem Patienten nicht per se von Aimovig abraten. «Aber ich würde ihm raten, auch andere Behandlungsmethoden auszuprobieren.» 

 

*Name geändert

So wirkt Aimovig
Bei einem Teil der Migräniker ist der Botenstoff Calcitonin Gene-Related Peptide, kurz CGRP, massgeblich an der Entstehung des Migräne-Anfalls beteiligt. Der Mechanismus mit dem CGRP funktioniert so: Dockt dieses Eiweiss-Molekül, das vergleichbar ist mit anderen Botenstoffen wie etwa Serotonin oder Dopamin, im Stammhirn an einem Rezeptor an, weiten sich die Blutgefässe im Hirn und es kommt zu heftigen Schmerzen und Lichtempfindlichkeit bis hin zu Übelkeit und Wahrnehmungsstörungen. Der Aimovig-Antikörper Erenumab verhindert, dass diese CGRP-Moleküle andocken können und beugt so einer Migräne-Attacke vor.
Was ist Migräne?
  • Häufigkeit
    Zirka fünf bis zehn Prozent der Menschen leiden unter Migräne (familiäre Häufung). Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
  • Erkrankungsalter
    Die Migräne tritt meist zwischen der Pubertät und dem dreissigsten Lebensjahr auf.
  • Typische Symptome
    Heftige Kopfschmerzen, meist auf einer Seite des Kopfes; Übelkeit und Erbrechen, Lichtempfindlichkeit. Bei manchen Patienten kommt es vor dem Auftreten der Kopfschmerzen zu «Aura»-Symptomen: Flimmern vor den Augen, Ameisenlaufen in Händen oder im Gesicht, kurzzeitige Lähmungen, Sprachstörungen und Schwindel.
  • Ursache
    Verengung der Kopfarterien, anschliessend eine reaktive Erweiterung der Gefässe.
  • Behandlung
    Während des Anfalls helfen Kopfschmerzmittel und Medikamente gegen die Übelkeit, bei starken Beschwerden auch rezeptpflichtige Mittel wie etwa Ergotaminderivate oder Serotoninagonisten (Sumatriptan). Zur Vorbeugung gibt es rezeptpflichtige Medikamente (Betablocker, Calcium-Antagonisten). Vielen Patienten helfen auch Entspannungsmethoden oder komplementärmedizinische Verfahren (Akupunktur, Hypnose).
  • Vorbeugen
    Verzicht auf auslösende Nahrungsmittel wie etwa Schokolade, Käse oder bestimmte Obstsorten, regelmässiger Schlaf, Vermeidung von Stress, Medikamente.
Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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