Pflegeinitiative: Betriebe sacken Geld ein
Dank einer Ausbildungsoffensive sollen angehende Pflegefachkräfte mehr verdienen. Manche Arbeitgeber sabotieren diese Unterstützung. Der Berufsverband ist empört.
Veröffentlicht am 3. September 2025 - 15:04 Uhr
Die Schweiz braucht dringend diplomierte Pflegerinnen und Pfleger. Manche Pflegeheime bringen die Ausbildung mit übertriebenen Zusatzanforderungen in Verruf.
Als im November 2021 die Pflegeinitiative mit deutlichen 61 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde, stand die Schweiz noch unter dem Eindruck der Corona-Pandemie. Das halbe Land sass im Homeoffice, die Menschen applaudierten dem Pflegepersonal aus Solidarität auf den Balkonen. Dass Menschen, die anderen Menschen helfen, bessere Arbeitsbedingungen verdienen – darüber herrschte weitgehend Einigkeit.
Heute, vier Jahre später, wird der Fortschritt ausgerechnet von Institutionen sabotiert, die mehr Personal brauchen. Gesundheitsinstitutionen im Aargau, in Luzern, Zürich und mutmasslich weiteren Kantonen stecken nämlich öffentliche Gelder in die eigene Tasche. Anstatt Studierenden und Praktikantinnen einen besseren Lohn auszuzahlen.
Patrick Hässig, Zürcher GLP-Nationalrat und diplomierter Pflegefachmann, kämpfte 2021 an vorderster Front für die Initiative. Was heute manche Betriebe aus dem Abstimmungserfolg machten, sei «an Dreistigkeit nicht zu überbieten», sagt er dem Beobachter.
Mehr Lohn für Pflegepersonen
Doch der Reihe nach. Was die Schweiz händeringend sucht, sind diplomierte Pflegefachpersonen. Also Menschen, die beispielsweise bei der Spitex arbeiten, Hausbesuche machen und Betagte langfristig pflegen.
Mit der «Initiative für eine starke Pflege» wurde beschlossen, die Ausbildung für genau diese Fachkräfte attraktiver zu machen. Heisst: mehr Lohn. Der monatliche Grundlohn beträgt nämlich zwischen 400 und 1500 Franken – gerade Quereinsteigerinnen reicht das zum Leben nicht. Insgesamt wird die Ausbildung in der Pflege deshalb neu durch Bund und Kantone mit knapp einer Milliarde Franken gefördert. Per 1. Juli 2024 wurden die Zuschüsse eingeführt.
Der zweite Köder
Schon davor versuchten Pflegeheime, Spitex-Versorger und andere Arbeitgeber, Studierende mit sogenannten Weiterbildungsvereinbarungen zu ködern. Das bedeutet, dass Studierende sich beispielsweise verpflichteten, nach der Ausbildung noch mindestens zwei Jahre im Betrieb zu arbeiten. Dafür erhielten sie mehr Lohn.
Das ist arbeitsrechtlich umstritten. Ob eine Zusatzvergütung während der Ausbildung an solche Bedingungen geknüpft sein darf, wird von Experten unterschiedlich bewertet.
Jedenfalls ergab sich nach der Einführung der staatlichen Zuschüsse die spezielle Situation, dass Studierende mit Weiterbildungsvereinbarungen plötzlich doppelte Zulagen erhielten. Neben der Zusatzvergütung durch den Arbeitgeber gab es die Zuschüsse von Bund und Kantonen. Das führte dazu, dass einzelne Auszubildende plötzlich mehr Lohn erhielten als Fachkräfte mit abgeschlossener Ausbildung.
Änderungskündigung, aber Verpflichtung bleibt
Das gehe nicht, fanden mehrere Pflegeheime. Sie verlangten von ihren Studierenden, auf die Zuschüsse durch den Arbeitgeber zu verzichten, weil sie ja jetzt Geld vom Kanton erhielten. Studierende meldeten dem Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer (SBK), dass ihnen Änderungskündigungen vor die Nase gehalten worden seien.
«Es wurde in manchen Fällen definitiv Druck ausgeübt», sagt Erik Grossenbacher von der SBK-Sektion Zentralschweiz.
Das Problem: An den Weiterbildungsvereinbarungen wurde nichts geändert. Die Studierenden bleiben also vertraglich verpflichtet, nach der Ausbildung mindestens zwei Jahre in den Betrieben zu arbeiten. Ohne dass die Betriebe dafür mehr bezahlten.
Grossenbacher berichtet von mindestens 13 betroffenen Studierenden bei acht verschiedenen Arbeitgebern in der Zentralschweiz. Im Kanton Zürich wandten nach Informationen des Beobachters mindestens vier Institutionen denselben Kniff an. «Es besteht die Möglichkeit, dass Betriebe sich gegenseitig inspirieren», sagt Grossenbacher. Welche Institutionen es sind, will er nicht sagen. Er geht aber von einer grösseren Dunkelziffer aus.
«Wenn sich diese Praxis nicht sofort ändert, müsste eine Anzeige geprüft werden.»
Patrick Hässig, Nationalrat GLP/ZH und Pflegefachmann
Die meisten Kantone haben bislang nicht öffentlich auf die Hinweise des SBK reagiert. Einzig die Bildungs- und Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich mahnte in einem Rundschreiben vom 29. August 2025 an Pflege-Ausbildungsbetriebe, dass die kantonalen Förderbeiträge zur «Sicherung des Lebensunterhalts» der Auszubildenden beitragen sollen. Sie seien «nicht dazu bestimmt, einzelnen Ausbildungsbetrieben eine Senkung der Lohnkosten zu ermöglichen». Auch das Fachportal «Medinside» berichtete über die Klarstellung der Zürcher Behörden.
Sind Sie von Lohnänderungen durch Ihren Arbeitgeber betroffen? Sie können uns gern – auch anonym – von Ihrer Situation berichten. Sie erreichen den Beobachter auf der geschützten Plattform sichermelden.ch.
Nationalrat Patrick Hässig begrüsst diese Warnung durch den Kanton Zürich und sagt, sie sei ein letzter Schuss vor den Bug. «Was hier passiert, ist ein Affront. Die Menschen, die 2021 die Pflegeinitiative annahmen, wollten bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen für das Pflegepersonal schaffen, und wenn das nun einige ausnutzen, ist das nicht okay», sagt er. «Wenn sich diese Praxis nicht sofort ändert, müsste eine Anzeige geprüft werden.»
Erik Grossenbacher vom Berufsverband SBK sagt, der Schwung aus der Pflegeinitiative sei mittlerweile teilweise verpufft. Er kenne einige Studierende, die wegen der Art und Weise, wie ihre Betriebe die Lohnänderung durchboxten, frustriert seien. «Manche schliessen ihre Ausbildung noch ab. Aber sie wollen danach nicht mehr in der Pflege arbeiten.»
- Bildungs- und Gesundheitsdirektion Kanton Zürich, Brief an die Ausbildungsbetriebe Pflege der höheren Fachschule und der Fachhochschule: Förderbeiträge an Studierende in Pflege HF/FH und Praktikumslöhne (Download, PDF)
- Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer (SBK), Medienmitteilung Sektion Zürich/Glarus/Schaffhausen: Fairplay bei den Ausbildungsbeiträgen für Studierende
- «Medinside»: Gelder für Pflege-Studierende landen bei Betrieben