Eigentlich tut Günther Meili* das Gleiche wie sein Bürokollege: Er telefoniert mit Kunden, verkauft Werbeflächen in Zeitschriften und auf Plakatwänden und koordiniert den Druck. Dazwischen trifft er seine Kollegen auf einen Schwatz im Kaffeeraum, und wenn er Geburtstag hat, bringt er Gipfeli mit. Aber: Sein Pultnachbar hat einen Arbeitsvertrag, und Meili ist als selbständiger Projektmitarbeiter tätig. Doch wo genau liegt der Unterschied?
Ob ein Arbeitsvertrag vorliegt oder nicht, ist nicht immer einfach zu beurteilen (siehe unten «Freelancer sind ein Spezialfall»). Für Betroffene ist die Antwort aber von grosser Tragweite.
Sicher ist: Wie die Parteien die Zusammenarbeit bezeichnen, ist nicht massgebend. Es kommt also nicht darauf an, dass Günther Meilis Vertrag fett mit «Dienstleistungsvertrag» überschrieben ist oder darin festgehalten wird, dass er «für die notwendigen Versicherungen selber aufkommen muss». Ein paar Buchstaben im Vertrag reichen nicht dazu aus, dass sich ein Arbeitgeber seiner Pflichten entledigen kann.
Ob man als Selbständiger oder als Angestellter gilt, entscheidet in einem ersten Schritt die AHV-Ausgleichskasse. Dort meldet sich an, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit aufnehmen möchte. Die AHV-Ausgleichskasse entscheidet aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse. Wenn der Betroffene in die Arbeitsorganisation einer Firma eingegliedert ist, geht die AHV regelmässig nicht von einer Selbständigkeit aus.
Freie Mitarbeiter oder Freelancer sind weniger eng in den Betrieb eingebunden als Festangestellte. Sie haben in der Regel grössere Freiheiten in der Arbeitsgestaltung und werden oft nur von Fall zu Fall beschäftigt.
Eine gesetzliche Definition der freien Mitarbeit existiert nicht. Das Bundesgericht hielt fest, dass freie Mitarbeiter weder klar zur Definition Arbeitnehmer noch klar zur Definition Selbständiger passen. Und so muss man jeden Einzelfall anhand der konkreten Umstände untersuchen.
Übrigens: Auch Mischformen sind denkbar. So kann man zwar selbständig tätig sein, aber dennoch einzelne arbeitsvertragliche Elemente vereinbaren wie zum Beispiel bezahlte Ferien oder Kündigungsfristen.
Als sich Meili bei der Ausgleichskasse anmeldete, war er noch flexibler, konnte sich die Arbeitszeit frei einteilen und warb Kunden meist von zu Hause oder von unterwegs an. Das war ihm recht so, denn er arbeitet auch noch für andere Auftraggeber.
Mit der Zeit wurden ihm aber beim jetzigen Arbeitgeber zusätzliche Aufgaben übertragen, die er vor Ort erledigen muss. Er ist nun an gewisse Präsenzzeiten gebunden und belegt einen eigenen Arbeitsplatz. Für andere Auftraggeber ist er nicht mehr tätig.
Schritt für Schritt ist Meili so zum Scheinselbständigen geworden. Das heisst: Er leistet seine Arbeit auf selbständiger Basis, obwohl eigentlich alle Voraussetzungen für einen Arbeitsvertrag gegeben sind. Damit verzichtet er auf viele Sicherheiten.
Arbeitnehmer sind von Gesetzes wegen sozialversichert – AHV/IV/ALV, Pensionskasse, Unfallversicherung. Bei Selbständigen ist das anders. Obligatorisch sind sie nur bei der AHV/IV/EO versichert. Sie haben also keine staatliche Arbeitslosenversicherung und keine obligatorische berufliche Vorsorge. Wenn sie verunfallen oder krank werden, kommt die Krankenkasse zwar für die Heilungskosten auf, nicht aber für den Lohnausfall.
Chauffeur fährt mit seinem eigenen Lastwagen
Carlo Schmid* war bis vor einem Jahr bei einem Transportunternehmen angestellt. Dann machte er sich selbständig. Er kaufte dem Ex-Arbeitgeber einen Camion ab und schloss einen Fahrvertrag mit ihm ab. Ausserdem kündigt ihm die Firma eine anstehende Fahrt mindestens drei Tage im Voraus an und gibt genaue Anweisungen zur Route und zur Behandlung des Transportguts. Schmid darf Anfragen ablehnen und auch für andere Transporteure tätig sein. Er hat für den Camion einen Abstellplatz in der Nähe seines Wohnorts gemietet. Ist er selbständig oder nicht?
Entscheid: Die Firma gibt Schmid zwar genaue Weisungen, aber insgesamt sprechen mehr Hinweise für eine selbständige Tätigkeit. Er nutzt einen eigenen Camion. Wirtschaftlich ist er nicht von der Transportfirma abhängig, da er auch für andere Firmen arbeitet. Zudem steht im Fahrvertrag nichts zu Spesen, Ferien oder Sozialabgaben. Schmid hat die Firma aufgefordert, die Sozialversicherungsbeiträge zu übernehmen. Doch er verliert vor Gericht – die Richter stufen ihn als selbständig ein.
Selbständige müssen sich also selber absichern. Dazu können sie sich freiwillig bei einer Pensionskasse versichern oder eine Lohnausfallversicherung abschliessen. Beides ist allerdings teuer.
Auch sonst ist Meili gegenüber seinen Bürokollegen benachteiligt. Wenn es viel zu tun gibt, arbeitet er von früh bis spät. Auf diese Weise sorgt er für magere Zeiten vor, wenn etwa die Auftragslage schwach ist, er schon vor der Mittagspause nach Hause geschickt wird oder gar nicht erst zur Arbeit erscheinen muss.
Diese Monate reissen jeweils ein grosses Loch in sein Budget. Wie damals, als er zwei Wochen mit einer schweren Grippe im Bett lag. Bezahlt wird Meili nämlich nach Aufwand, also nur für die Stunden, die er effektiv geleistet hat. So kommt es auch, dass er sich im vergangenen Jahr nur zehn freie Tage gegönnt hat. Mehr lag einfach nicht drin.
Beobachter-Abonnenten erfahren in der Mustervorlage «Freier Mitarbeiter», wie man arbeitsvertragliche Punkte wie die Sozialversicherung, Lohnfortzahlung bei Krankheit und die Entlöhnung regelt und wie man alternativ einen Vertrag aufsetzt, wenn die Selbständigkeit durch die AHV nicht anerkannt wird.
Das schwankende Einkommen belastet Meili. Nach einem Jahr fühlt er sich ausgebrannt und ungerecht behandelt. Immerhin beziehen seine Bürokollegen vier Wochen bezahlte Ferien, können ihre Überstunden kompensieren und bekommen ihren Lohn auch, wenn sie krank sind.
Die Scheinselbständigkeit kommt aber nicht immer schleichend wie bei Meili. Sie kann auch plötzlich eintreten, etwa wenn der Arbeitgeber Geld sparen will und einen Mitarbeiter einfach zum Selbständigen erklärt, der für seine Dienste von heute auf morgen Rechnung stellen muss. Betroffen sind oft Ältere, die man nach einer Entlassung unregelmässig und zu schlechteren Bedingungen als Freie weiterbeschäftigt.
Wer zweifelt, ob er noch Dienstleister oder bereits Arbeitnehmer geworden ist, sollte seinen Status abklären. Das kann man kostenlos bei den kantonalen Ausgleichskassen.
Coiffeuse mietet einen Stuhl in einem Salon
Vreni Huber* träumt von einem eigenen Salon. Doch weil das Geld fehlt, entscheidet sie sich erst mal für eine Stuhlmiete. Sie mietet montags und donnerstags einen Coiffeurstuhl in einem Salon. Bei der Arbeit benutzt Huber ihre eigenen Scheren und Kämme. Die Anzahl Kunden bestimmt sie frei. Für die Miete liefert sie einen Teil der Einnahmen an den Saloninhaber ab. Ist Huber selbständig oder nicht?
Entscheid: Für die Kunden ist nicht ersichtlich, dass Huber ihre Dienstleistung auf eigene Rechnung erbringt, da sie sich über die allgemeine Nummer des Salons melden und über dem Eingang ins Geschäft nur das Logo des Inhabers prangt. Auch wenn Huber ihre Arbeitszeiten grundsätzlich frei einteilen kann, setzen ihr die Öffnungszeiten des Salons doch Grenzen. Der Status von Huber wurde von der AHV-Ausgleichskasse geklärt, nachdem sie beim Saloninhaber eine Kontrolle durchgeführt hatte. Wer sich in einen Coiffeursalon einmietet, ist selten selbständig. Auch Huber ist rechtlich Arbeitnehmerin.
Falls die Ausgleichskasse eine Scheinselbständigkeit feststellt, fordert sie die ausstehenden Sozialabgaben vom Arbeitgeber nach. Dieser wiederum kann den Arbeitnehmerbeitrag vom Arbeitnehmer zurückverlangen – und zwar innert eines Jahres ab Mitteilung über die Beitragspflicht.
Und: Wer vor der AHV-Behörde als unselbständig gilt, ist es auch gegenüber den Pensionskassen. Der Arbeitgeber muss ihn also bei seiner PK versichern und Beiträge nachzahlen. Wenn er die Sozialversicherungsbeiträge absichtlich nicht oder falsch abrechnet, macht er sich strafbar.
In vielen Fällen führt bereits ein Gespräch mit dem Chef zum Ziel. Man sollte seinen Standpunkt aber stets auch schriftlich darlegen. Bei Uneinigkeit oder wenn die Zusammenarbeit danach gar plötzlich beendet wird, kann man seine Ansprüche auf dem Gerichtsweg geltend machen. Die Schlichtungsbehörden respektive Gerichte klären dann ab, ob man in einem Arbeitsverhältnis steht oder nicht. Im Zweifelsfall gehen die Gerichte in der Regel von einem Arbeitsverhältnis aus.
Yogalehrer gibt Lektionen im Fitnessstudio
Instruktor Severin Friedli* ist seit drei Jahren in einem Fitnessstudio tätig und erteilt dort Pilates- und Yogastunden. Er richtet die Kurse nach einem fixen Stundenplan aus, den das Studio monatlich im Voraus festlegt und in einer Werbebroschüre publiziert. Durchschnittlich unterrichtet Friedli 15 Lektionen pro Woche, die er frei gestaltet. Das Studio kontrolliert ihn dabei nicht und erteilt ihm keine fachlichen Weisungen. Bezahlt wird Friedli pro Lektion. Ferien hat er nicht. Ist er selbständig oder nicht?
Entscheid: Friedli nutzt Räumlichkeiten und Geräte des Studios. Er kann zwar seine Wünsche zum Stundenplan äussern, doch wenn dieser mal veröffentlicht ist, ist er daran gebunden. Friedli ist der Spezialist. Es ist daher nicht nötig, dass das Fitnesscenter ihm fachliche Weisungen erteilt. Er konnte vor Gericht daher erfolgreich eine Lohnfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit geltend machen, sprich: Friedli ist nicht selbständig.
Übrigens: Wer als Arbeitnehmer gilt und plötzlich auf die Strasse gestellt wird, kann allenfalls auch eine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung geltend machen. Missbräuchlich ist eine Kündigung immer dann, wenn sich der Arbeitnehmer zuvor auf anständige Weise für seine Rechte gewehrt hat (man spricht hier von einer sogenannten Rachekündigung). Die Entschädigung beträgt bis zu sechs Monatslöhne.
Auch Günther Meili suchte das Gespräch – und fand eine Lösung. Jetzt arbeitet er nicht mehr als Dienstleister, sondern ganz offiziell als Arbeitnehmer. Zusätzlich zu den vier Wochen Ferien gemäss Arbeitsvertrag erhält er fürs nächste Jahr zwei weitere Ferienwochen zugesagt. Auf weitergehende Forderungen hat Meili verzichtet. Dem Frieden zuliebe.
*Name geändert