Wenn das Leben ernst wird


Umweg, Sackgasse, Abkürzung: Viele Wege führen ins Arbeitsleben. Wie sich ein wandelnder Arbeitsmarkt und Bedürfnisse nachrückender Generationen auf den Berufseinstieg auswirken – und welche Stolpersteine und Freiheiten den Weg säumen.
- Kapitel 1Berufseinstieg: Wenn das Leben ernst wird
- Kapitel 2Lehre: Vor dem Start der Hürdenlauf
- Kapitel 3Start-up: Sprung ins kalte Wasser
- Kapitel 4Praktikum: Gut ausgebildet, schlecht bezahlt
- Kapitel 5Sinnsuche: Arbeit als Mittel zum Zweck
- Kapitel 6Interview: «Man rät den Jungen oft, etwas ‹Richtiges› zu lernen. Schade»
Lehre: Vor dem Start der Hürdenlauf
Ivan Rodriguez (14).
Nach der Schule direkt in die Lehre? Das gelingt nicht immer. Die steigenden Anforderungen der Wirtschaft können zu belastenden Umwegen führen.
Die Zukunft holt sie schon ein, wenn sie erst knapp Teenager sind: Schon früh müssen Jugendliche wissen, was sie später beruflich machen wollen. Jahr für Jahr beenden Tausende Schülerinnen und Schüler die obligatorische Schulzeit. Rund zwei Drittel von ihnen beginnen danach eine Lehre – 2017 waren es 66'468 Jugendliche im 1. Lehrjahr. Ganz abgesehen davon, dass die richtige Berufswahl an sich schon eine Herausforderung für junge Menschen ist, gelingt nicht allen der problemlose direkte Übertritt von der Schule in die Lehre. Einige Stolpersteine säumen den Weg.
So verlangen beispielsweise viele Arbeitgeber zusätzlich zu den Schulzeugnissen, dass Jugendliche für ihre Bewerbung Eignungstests absolvieren. In den letzten zwei Jahrzehnten ist das immer populärer geworden – in einigen Branchen geht es gar nicht mehr ohne. Dabei gibt es schweizweit eine Vielzahl unterschiedlicher Testsysteme.
Der 14-jährige Ivan Rodriguez etwa geht in Zürich in die zweite Sekundarstufe und hat kürzlich den Stellwerktest machen müssen. Im Gegensatz zu privaten Eignungstests ist dieser im Kanton Zürich und in einigen anderen Deutschschweizer Kantonen obligatorisch. Eigentlich ist sein Zweck, die Fächerwahl im 9. Schuljahr mit einer Standortbestimmung zu vereinfachen. «Ursprünglich sollte der Stellwerktest nie eine Beilage zur Bewerbung werden. Die Realität zeigt aber das Gegenteil. Viele Firmen verlangen ihn», erzählt Roger Bircher, ein Lehrer von Rodriguez.
«Man wird dem Schüler menschlich nicht gerecht.»
Roger Bircher, Lehrer und Schulleiter
Der Stellwerktest sei für Schülerinnen und Schüler wie auch für die Lehrpersonen durchaus nützlich, damit man herausfinden könne, wo die Stärken und Schwächen sind und man entsprechend im letzten Schuljahr Lücken stopfen und Talente fördern könne. Er habe aber in seiner Aussagekraft auch Grenzen, sagt Bircher, der seit 25 Jahren unterrichtet. «Die Tagesform ist ausschlaggebend. Will man Wissen wirklich objektiv messen und vergleichbar machen, wird es deshalb schwierig. Man wird dem Schüler damit menschlich nicht gerecht.» Schulzeugnisse würden zudem einen weiteren Bereich umfassen, und grundsätzlich sei die Forderung der Wirtschaft nach solchen Tests auch in gewissem Masse ein Affront für die Lehrer.
Ivan Rodriguez’ Traumberuf ist Grafiker. Er zeichnet und malt gerne. Farbenfrohe Kunstwerke im Wohnzimmer bezeugen sein Talent. Dementsprechend hat er für die 3. Sekundarstufe das Fach Zeichnen als Fokus gewählt. Derzeit stehen ihm noch viele Optionen offen – er will auch die Gymiprüfung machen. Auf die Arbeitswelt freut er sich zwar, sie scheint aber noch meilenweit entfernt zu sein. Für den Stellwerktest hat er nicht viel gelernt und gleichwohl gute Resultate erzielt.
Trotzdem übt er dezidiert Kritik: «Eigentlich sollte der Test zeigen wo die Stärken sind und wo es Nachholbedarf gibt. Aber es ist für alle schon früh klar, dass er kommt und es ein grosses Ereignis ist. Es gibt dann einige, die lernen schon ein halbes Jahr vorher dafür.» Das findet er nicht sinnvoll, denn so werde das Ziel der Standortbestimmung ja verfälscht.
Noch viel heftiger kritisiert werden bestimmte private Eignungstests, wie zum Beispiel der Multicheck. Die Firma gateway.one, die ihn anbietet, ist Marktführerin in der Schweiz. Den Online-Test gibt es in drei Sprachen und landauf, landab treten jährlich 30'000 Schülerinnen und Schüler dafür an. Kostenpunkt: rund 100 Franken. Bekommt man die gewünschte Lehrstelle nicht, muss man unter Umständen für andere Arbeitgeber wiederum andere Tests absolvieren und nochmals zahlen. Das belastet das Portemonnaie der Eltern.
Obwohl viele Firmen zur Selektion der besten Anwärterinnen darauf setzen, ist auch Gewerbeverbands-Direktor Hans-Ulrich Bigler skeptisch: «Ich persönlich finde es bedenklich, wenn Eltern für die Bewerbungen ihrer Kinder teure Tests bezahlen müssen.» Er habe aber auch Verständnis für die Lehrbetriebe: «Ein Grundproblem, das man in der Schule hat, ist, dass die Zeugnisse für Lehrmeister nicht immer klar lesbar sind. Ein 5er am Zürichberg ist nun mal nicht gleich wie ein 5er in Spreitenbach.»
Weil der Schweizerische Gewerbeverband die externen und kostenpflichtigen Tests problematisch findet, ging er mit der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren eine Kooperation ein, um eine schulische Standortbestimmung zu schaffen, die ähnlich ist wie der Stellwerktest. Das «Anforderungsprofile» genannte Projekt gleicht aber die Resultate der Standortbestimmung gleichzeitig mit Anforderungsprofilen fast aller Berufe in der Schweiz ab. Damit sollen der Berufswahlprozess vereinheitlicht und Tests wie Multicheck überflüssig werden. Bisher findet er im Raum Nordwestschweiz Anwendung.
Grundsätzlich gegen jegliche solche Tests ist die Gewerkschaft Unia. Sie verlieh dem Multicheck 2013 gar einen Schmähpreis, weil das Unternehmen sich auf Kosten junger Stellensuchender «eine goldene Nase verdiene». Sogar für Schnupperlehren würden sie teilweise verlangt.
Unia-Jugendsekretärin Kathrin Ziltener ist der Meinung es sei heikel, wenn die Tests in der Schule institutionalisiert würden: «Damit die Klasse möglichst gut abschneidet, führt das zu viel Druck für die Lehrer.» Es gebe Branchen, in denen kaum mehr Lehrstellen vergeben werden ohne Tests. Kaufmännische Berufe und die Informatik seien stark betroffen. In den beliebten Bereichen werde damit die Konkurrenz um knappe Ausbildungsplätze zusätzlich angekurbelt. Ziltener plädiert dafür, wieder mehr auf die aussagekräftigeren Schulnoten abzustützen und insbesondere viel Zeit dafür zu investieren, potenzielle Berufseinsteiger bei Schnupperlehrtagen gut kennenzulernen, statt sich auf standardisierte Tests zu verlassen.
Vorlehrpraktika sind eine andere Hürde. Es klingt zwar geradezu absurd, dass Jugendliche vor der Lehre ein Praktikum absolvieren sollen, obwohl es in der Lehre ja genau darum geht, sich praktische Erfahrung anzueignen. Das Berufsbildungsgesetz hält explizit fest, dass die berufliche Grundbildung an die obligatorische Schulzeit anschliesst. Trotzdem sind Praktika in einigen Branchen normal.
Besonders stark betroffen sind beliebte soziale Berufe. Eine 23-jährige Fachfrau Kinderbetreuung, die nicht namentlich genannt werden möchte, musste zwei einjährige Praktika absolvieren, bevor sie überhaupt eine Lehre beginnen konnte. An beiden Arbeitsorten waren je drei Praktikantinnen angestellt, aber in Aussicht stand jeweils nur ein einziger Ausbildungsplatz. Nach dem ersten Praktikum sei sie noch zu unreif für den Job gewesen, sagte man ihr. Nach zwei Jahren klappte es dann endlich. Zurückblickend ist sie trotz langwierigem Weg bis zur Lehrstelle froh, dass sie nicht aufgegeben hat. Denn es sei ihr absoluter Traumberuf und sie gehe gerne zur Arbeit.
Nur 15 Prozent der Lernenden der Fachrichtung Kinderbetreuung stiegen direkt nach der obligatorischen Schule in die berufliche Grundbildung ein.
Quelle: Jahresbericht Savoir Social 2017
Wenn die zurückhaltende junge Frau über ihren Job spricht, leuchten ihre Augen und sie blüht auf: «Es ist unglaublich, die Entwicklung der Kinder mitzuverfolgen. Am Anfang können sie noch kaum reden. Wenn sie dann im Kindergartenalter sind, plappern sie ohne Punkt und Komma.» Als sie nach Abschluss der Lehre erneut auf Stellensuche war, stand sie erneut vor einer Hürde: viele verlangten zwei Jahre Berufserfahrung, doch ihr wurde gesagt, die Lehre und ihre bereits 5 Jahre andauernde Tätigkeit in dem Bereich würden nicht zählen.
Ivan Rodriguez (14).
Mithilfe des Mentoringprogramms «Job Caddie» der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft fand sie schliesslich wieder eine Anstellung. Doch die Unsicherheiten bei ihren ersten Schritten im Arbeitsleben waren eine grosse Belastung.
Claudia Manser, Leiterin von Job Caddie in Zürich, ist überzeugt, mit Praktika vor und nach der Lehre würden die Jugendlichen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. «Oft sind sie aber auch zu scheu, verlangen nichts Schriftliches bezüglich Lehrstellenzusage und gehen davon aus, dass sie diese bereits haben.» Wenn ein Praktikum mit einer fixen Zusage zur darauffolgenden Lehrstelle einher gehe, könne das aber durchaus eine gute Lösung sein, insbesondere wenn die Alternative Arbeitslosigkeit sei.
Einen weiteren Grund für Einstiegsschwierigkeiten sieht Manser beim Alter zum Zeitpunkt des Schulabschlusses. «Kinder werden immer früher eingeschult und sind dann entsprechend jünger, wenn sie mit der Schule fertig sind. Die Lehrbetriebe beklagen dann, dass die Bewerber zu jung sind für den Job.»
Dazu kommt im Bereich der Kinderbetreuung, dass früher für die Ausbildung ein Mindestalter von 18 Jahren galt, wie Nadine Hoch, Geschäftsleiterin des Verbands kibesuisse Kinderbetreuung Schweiz, erzählt. Heute schliesst die Lehre aber direkt ans Ende der obligatorischen Schulzeit an. «Weil es bei der damaligen Ausbildung zur Kleinkinderzieherin eine solche Altersbeschränkung gab, herrscht dieses Verständnis bei einigen Ausbildenden immer noch vor. Primär, weil man für die Arbeit mit Menschen eine gewisse Reife benötige.» Diese historischen Gründe würden aber zu einer etwas schizophrenen Argumentation führen: «Dem widerspricht natürlich, dass man ja auch im Praktikum mit Menschen arbeitet. Insofern macht das Argument keinen Sinn.»
In einem Positionspapier zu Vorlehrpraktika empfiehlt der Verband den Betrieben, auf Praktikumsstellen zu verzichten, beziehungsweise sie nur unter eingeschränkten Bedingungen zuzulassen. Der Monatslohn solle zwischen 800 und 950 Franken liegen. Zudem wird gefordert, dass innerhalb einer Kita nicht mehr Praktika als Lehrstellen angeboten werden.
Ein Problem sei jedoch, dass die Aufsichtsbehörden für Kindertagesstätten einen Betreuungsschlüssel vorgeben würden, der neben pädagogisch ausgebildeten Personen auch Lernende, nicht branchenspezifisch ausgebildete Erwachsene und Personen im Vorlehrpraktikum zuliessen.
«Weil Praktikumsstellen am günstigsten und vor allem auch zulässig sind, haben 80 Prozent der Kita-Betriebe solche Stellen. Mit diesen Betreuungsschlüsselvorgaben unterstützen die Behörden somit die hohe Anzahl Praktika oder nehmen sie zumindest in Kauf. Die Hauptursache für die unbefriedigende Situation ist der hohe Kostendruck», sagt Nadine Hoch. Die finanzielle Belastung für Eltern sei heute bereits enorm, die Schmerzgrenze erreicht. Der Ball liege bei der öffentlichen Hand und der Wirtschaft. Denn die Kita-Betriebe würden gerne aufs Einstellen von Praktikantinnen und Praktikanten verzichten, wenn sie denn genügend finanzielle Mittel für geschultes Personal zur Verfügung hätten.
Dem pflichtet auch Unia-Jugendsekretärin Kathrin Ziltener bei. Das Finanzierungsproblem dürfe aber nicht auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen, sondern müsse gesamtgesellschaftlich gelöst werden. «Kita-Praktika sind sicher das Paradebeispiel dafür, wie junge Arbeitnehmende ausgenutzt werden. Wir sehen aber auch eine generelle Zunahme von Vorlehrpraktika, wie beispielsweise bei Schreinern, Coiffeur-Betrieben, Schlossern und Grafikern», sagt Ziltener. Die Gründe seien unterschiedlich. Die hohe Nachfrage in einigen Branchen ist einer. Oder Schüler und Schülerinnen würden bei der Lehrstellensuche ausgenutzt, wenn sie schlechte Noten hätten.
Die Unia fordert deshalb ein Verbot von Vorlehrpraktika: «Für Jugendliche, die Mühe beim Berufseinstieg haben, gibt es institutionalisierte Lösungen wie z.B. das Zwischenjahr. Praktika sind im Arbeitsrecht praktisch nicht geregelt. Deshalb gibt es auch keinen besonderen Schutz für Praktikantinnen und Praktikanten. Ein Vorlehrpraktikum dient einzig dazu, die Lehre zu verlängern und jemanden günstiger einzustellen. In gewissen Branchen haben Jugendliche kaum eine Wahl und müssen solche Praktika zu Dumpinglöhnen leisten, um überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Wenn sich diese Praxis weiter einschleicht, schadet das nicht zuletzt dem dualen Bildungssystem.»
Viele Wege führen ins Arbeitsleben
Umweg, Sackgasse, Abkürzung – Einstiege ins Berufsleben
Quelle: Beobachter Bewegtbild
Text: Tina Berg
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- Kapitel 3Start-up: Sprung ins kalte Wasser
- Kapitel 4Praktikum: Gut ausgebildet, schlecht bezahlt
- Kapitel 5Sinnsuche: Arbeit als Mittel zum Zweck
- Kapitel 6Interview: «Man rät den Jungen oft, etwas ‹Richtiges› zu lernen. Schade»