Wenn das Leben ernst wird

Wenn das Leben ernst wird

Redaktorin Tina BergRedaktor und Ressortleiter sowie Stiftungsrat SOS Beobachter Daniel Benz
Von Tina Berg, Daniel Benz, Jasmine Helbling und Birthe Homann
am 20.06.2019 - 14:27 Uhr
Quelle: Philip Bürli

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Umweg, Sackgasse, Abkürzung: Viele Wege führen ins Arbeitsleben. Wie sich ein wandelnder Arbeitsmarkt und Bedürfnisse nachrückender Generationen auf den Berufseinstieg auswirken – und welche Stolpersteine und Freiheiten den Weg säumen.

Praktikum: Gut ausgebildet, schlecht bezahlt

Lorella Liuzzo

Lorella Liuzzo (29).

Quelle: Kilian J. Kessler

Junge Erwachsene müssen viel zu viele Praktika absolvieren, die Qualität ist oft bedenklich, sagt die Unia. Bundesrat und Wirtschaft sehen das anders. Zwei Praktikantinnen erzählen.

 

Lorella Liuzzo kann sich gut verkaufen. Sie nimmt sich Zeit für Antworten und gestikuliert Ausrufezeichen hinter das Gesprochene. Begeisterungsfähig, selbstständig, kreativ – so steht es ihrem Lebenslauf, so ist es ihr ins Gesicht geschrieben. Die 29-Jährige wirkt wie ein alter Hase auf dem Arbeitsmarkt, erschnuppert sich aber noch immer Erfahrungen. Sechs Praktika hat sie gemacht: eines vor der Fachmatura, zwei für die Ausbildung zur Pflegefachfrau, zwei zur Umorientierung in die Kommunikationsbranche, noch eines fürs Studium.

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In vielen Branchen ist der Berufseinstieg über ein Praktikum längst zur Normalität geworden. Doch Praktikum ist nicht gleich Praktikum, denn im Gesetz ist der Begriff nicht definiert. Ein gewisser Ausbildungscharakter und die befristete Anstellung sind der kleinste gemeinsame Nenner, ansonsten herrscht Wildwuchs: Manche Praktika dauern wenige Wochen, andere länger als ein Jahr. Mal lässt sich mit dem Lohn gut leben, mal ist er kaum vorhanden. Einige Arbeitgeber profitieren vom Know-How der Studienabgänger und haben hohe Anforderungen, andere lassen sie nur banale Arbeiten verrichten.

«Es wenden sich immer mehr Personen an uns Gewerkschaften, die unter Praktika leiden», sagt Kathrin Ziltener, Jugendsekretärin der Unia. Fehlende Betreuung sowie schlechte Löhne seien an der Tagesordnung. «Wir sind davon überzeugt, dass die meisten Praktika nur Festanstellungen zu Dumpinglöhnen sind.»

Gibt es eine Generation Praktikum?

Die Kritik ist nicht neu. Um die Jahrtausendwende löste ein italienisches Internetforum eine europaweite Diskussion aus. Lautstark kritisierte die Jugend den zementierten Arbeitsmarkt und fand Verbündete in Spanien, Griechenland, Frankreich und Deutschland. Die Vertreter der «Generation Précaire» oder «Generation Praktikum» waren sich einig: Praktikanten werden als billige Arbeitskräfte von der Wirtschaft ausgenutzt. Kurz darauf wurde die Leidensgeschichte der Praktikanten sogar niedergeschrieben. Der italienische Roman «Generazione 1000 Euro» erzählt von hoch qualifizierten, aber schlecht bezahlten jungen Erwachsenen. Sie hangeln sich von Praktikum zu Praktikum, verdienen 1000 Euro im Monat und wohnen ewig bei den Eltern. Gefallen lassen sie sich die unverschuldete Misere aber nicht. Ein nationaler Streik legt die Wirtschaft lahm.

So weit kam es in der Wirklichkeit nicht. Der Aufschrei beschäftigte aber auch die Schweiz. Zwischen 1991 und 2005 liess der Bund die Situation der Praktikanten untersuchen. Fazit: Eine «Generation Praktikum» gebe es hierzulande nicht.

 

«Wir sind davon überzeugt, dass die meisten Praktika nur Festanstellungen zu Dumpinglöhnen sind.»

Kathrin Ziltener, Jugendsekretärin der Unia


 

«Schwerpunkt der Studie war der Übergang von der Hochschule in den Arbeitsmarkt und die Entwicklung der ersten Berufsjahre nach dem Studium», sagt Petra Koller vom Bundesamt für Statistik. Die Untersuchung sollte klären, ob Praktika in der Schweiz zu einem Einfallstor für prekäre Arbeitsbedingungen geworden sind. Obwohl sie mittlerweile fast 15 Jahre alt ist, wurde sie nie wiederholt.

«Es waren keine Anzeichen einer Trendveränderung festzustellen», so Koller. Ein Jahr nach Abschluss des Studiums absolvierten zwischen 2005 und 2016 immer 12 bis 14 Prozent der Uniabsolventinnen mit Master ein Praktikum. Ein Grossteil der Praktikumsquote kann auf Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaften zurückgeführt werden, die sich in einem Anwaltspraktikum befinden. Bei den Fachhochschul-Absolventen liegt die Quote sogar unter fünf Prozent. Der niedrigere Wert lässt sich dadurch erklären, dass ein Pflichtpraktikum in vielen Fällen bereits Teil der Ausbildung ist.

«Die Ergebnisse der Studie sind nicht aussagekräftig», widerspricht Gewerkschafterin Ziltener. «Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass es eine Generation Praktikum gibt.» Es stellt sich heraus, dass der Bund und die Gewerkschaft unter einer Generation Praktikum verschiedene Dinge verstehen. Der Bund zählt die Praktikumsstellen, die Unia bemängelt aber nicht nur deren Anzahl, sondern auch die Qualität. Die Situation der Praktikanten könne nur zufriedenstellend beurteilt werden, wenn alle Formen von Praktika berücksichtigt werden. Dazu gehören auch Praktika vor und nach der Lehre sowie während des Studiums.

Lorella Liuzzo

Lorella Liuzzo (29).

Quelle: Kilian J. Kessler
«Ich war total überfordert»

Sollte es eine Generation Praktikum geben, gehört Lorella Liuzzo definitiv dazu. An ihr erstes Praktikum erinnert sich die Baslerin nur ungern. Sechs Monate arbeitete sie für ihre Fachmatura in einem grossen Spital. Manchmal sieben Tage am Stück, oft folgte auf den Spätdienst ein Frühdienst. Schon am ersten Tag musste die damals 18-Jährige einen dementen, sterbenden Mann waschen. «Ich war total überfordert», erinnert sie sich. In den folgenden Monaten erledigte sie fast ausschliesslich Dinge, die sonst niemand machen wollte: Kotreste reinigen, Tee servieren, Materialschränke auffüllen.

Ihre Freundinnen haben in Pflegeberufen ähnliche Erfahrungen gemacht. Die meisten haben ihre Ausbildung abgebrochen, Weiterbildungen gemacht oder sich für eine Umorientierung entschieden.

Liuzzo biss auf die Zähne und wurde trotz Startschwierigkeiten Pflegefachfrau. Auch zwei Praktika gehörten zur Ausbildung, dieses Mal machte die Baslerin aber positive Erfahrungen. «Ich konnte Schritt für Schritt umsetzen, was ich in der Schule gelernt hatte», sagt sie. Nun gefiel ihr der Beruf immer besser.

Trotzdem blieb Liuzzo nur kurze Zeit in der Pflege. Mit 25 Jahren hatte sie einen Bandscheibenvorfall und musste sich umorientieren. «Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben», erinnert sie sich. Familie und Freunde rieten ihr zu einer Weiterbildung im Gesundheitsbereich, so wäre die bisherige Ausbildung nicht umsonst gewesen. Doch Liuzzo zweifelte. Schon immer hatte sie es geliebt, Geschichten zu erzählen.

Kurzerhand informierte sie sich beim Berufsberater und verschickte Blindbewerbungen. Ihr erstes Praktikum in einer Werbeagentur bekam Liuzzo ohne Berufserfahrung. Sie war motiviert und konnte gut schreiben, das reichte fürs Erste. Danach ist sie «Leiterli gestiegen»: Die gewonnenen Erfahrungen verhalfen ihr zu einem Praktikum im Marketing, dieses wiederum zu einem Freelancer-Job bei einer Agentur. «Danach war ich sicher: Das Kommunkationsstudium ist das Richtige für mich», sagt sie.

Praktikantinnen müssen Abstriche machen

Sozial- und Geisteswissenschaftler steigen besonders häufig über ein Praktikum in den Job ein, da ihre Studiengänge selten auf ein klar definiertes Jobprofil abzielen. Ein weites Feld an Berufen stehen ihnen offen, nur fehlen die praktische Erfahrungen. Viele Studierende sammeln diese über Nebenjobs oder Praktika. Auch Julia Bänninger ist eine von ihnen. Die Zürcherin machte fünf Praktika: drei während der Ausbildung, zwei danach – im Marketing, bei einer Zeitung, beim Radio, in der Kommunikation.
 

«Wenn es mir ums Geld gegangen wäre, dann hätte sich kellnern mehr gelohnt.»

Lorella Liuzzo


Bei einigen musste Bänninger Abstriche machen, meistens beim Lohn. Beim Radio verdiente sie gar nichts und war auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. «Man muss es sich leisten können, ein Praktikum nur aus Interesse anzunehmen», gibt sie zu. Auch Liuzzo verdiente bei einem fünfmonatigen Praktikum nichts. «Wenn es mir ums Geld gegangen wäre, dann hätte sich kellnern mehr gelohnt.»

Mindestlohn und Maximaldauer gefordert

Die Unia kritisiert un- und unterbezahlte Praktikumsstellen scharf: «Wenn junge Menschen auf die finanzielle Unterstützung von Eltern oder anderen Personen aus ihrem Umfeld angewiesen sind, führt das zu Chancenungleichheit.» Um sie besser vor Ausbeutung zu schützen, setzt sich die Gewerkschaft für eine maximale Praktikumsdauer von sechs Monaten sowie eine Mindestlohn-Regelung ein.

Ähnliche Forderungen aus der Politik hatten bisher einen schweren Stand. Vor einem Jahr forderte SP-Nationalrat Mathias Reynard zum Beispiel einen gesetzlichen Rahmen für die Dauer, Entschädigung und Ausbildung eines Praktikums. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion: «Aufgrund der Vielfalt möglicher Konstellationen, in denen Praktika absolviert werden, wäre eine einheitliche Regulierung solcher Arbeitsverhältnisse nicht sinnvoll.» Eine Erhöhung des administrativen Aufwands könne dazu führen, dass Unternehmen weniger Praktika ausschreiben. Ausserdem seien weder ein Mindestlohn noch eine zeitliche Begrenzung zielführend.

Der Arbeitgeberverband stimmt zu: «Eine Regulierung ist nicht nur unnötig, sondern würde auch bürokratischen Leerlauf bedeuten», so Kommunikationschef Fredy Greuter. «Dass Praktika ausbeuterisch sind, ist blosse gewerkschaftliche Rhetorik.» Das bestätige die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung: Im Jahr 2017 dienten 77 Prozent der Praktika einer Ausbildung, nur sieben Prozent wurden absolviert, weil junge Erwachsene keine Festanstellung fanden.

Wie sieht ein gutes Praktikum aus?

Laut der Unia erfüllt ein gutes Praktikum folgende Punkte:

  • Bestenfalls ist es an eine anerkannte Ausbildung gekoppelt
  • Eine Ansprechperson im Betrieb sowie in der begleitenden Schule stehen zur Verfügung
  • Ein Praktikumsplan listet verschiedene Ausbildungselemente auf
  • Die Praktikumsdauer beträgt maximal ein halbes Jahr
  • Praktikanten sollten vom Lohn leben können

 

Bänninger und Liuzzo betonen, dass sie nicht ausgebeutet wurden. Beide haben sich bewusst für ihre Praktika entschieden. «Ich würde keine dieser Erfahrungen missen wollen. Sie sind ein Teil meines Weges. Der war nicht linear und das ist auch gut so», sagt Bänninger. Mittlerweile steht die 28-Jährige kurz vor dem Abschluss ihres fünften Praktikums. Danach will sie endlich eine Festanstellung, am liebsten im Kulturbereich.

Auch Liuzzo hat einige Kurven, Sackgassen und Umwege hinter sich, doch die haben sich ausgezahlt. Noch diesen Monat beendet sie ihr Studium, die Festanstellung bei einer Zürcher Werbeagentur hat sie bereits in der Tasche.

Viele Wege führen ins Arbeitsleben

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Umweg, Sackgasse, Abkürzung – Einstiege ins Berufsleben

Quelle: Beobachter Bewegtbild

Text: Jasmine Helbling