Keine einzige Frau soll mehr gefragt werden, ob sie vor der Vergewaltigung getrunken habe, wie sie geschminkt war oder was sie getragen hat: das ist der grösste Wunsch an die Gesellschaft der diesjährigen Prix Courage-Gewinnerin, Cindy Kronenberg. «Egal, wie die Umstände waren und ob es dein Freund ist oder ein Fremder – wenn jemand dein Nein zu sexuellen Handlungen nicht akzeptiert, ist das nie okay oder deine Schuld», sagt die 29-jährige Kinder- und Jugendarbeiterin aus dem luzernischen Sursee. Sie selbst wurde vor sechs Jahren in Luzern von einem Fremden vergewaltigt.

«Mir einzugestehen, dass ich durch diese Tat zum Opfer wurde, war sehr schwierig», sagte Kronenberg während der Preisverleihung. Irgendwann merkte sie: sie will nicht länger in diesem Zustand der Verletztheit verharren. «Noch länger in dieser Trauer zu bleiben, bringt nicht viel – deshalb musste ich laut werden.» Mit diesem neuen Lebensmut und Antrieb im Rücken gründete sie die Anlaufstelle Vergewaltigt.ch, wo sie anderen Opfern von sexueller Gewalt hilft.

Für dieses Engagement gewinnt sie den diesjährigen Prix Courage. Die mit 15’000 Franken dotierte Auszeichnung der Zeitschrift Beobachter wurde am 29. Oktober in Zürich in feierlichem Rahmen überreicht.

Jurypräsidentin Susanne Hochuli würdigte den Mut der jungen Frau in  ihrer Laudatio: «Cindy Kronenberg hat ihre erlittene Kränkung und Verletztheit in unglaublich viel positive Energie umgewandelt.» Sie habe den grössten Respekt vor Kronenberg und ihre Geschichte berühre sie sehr. «Ohne Rücksicht auf eigene Verluste machen Sie das Richtige.»

Vergewaltigungsopfer fühlen sich alleine mit ihrer Geschichte

Obwohl es die 29-Jährige viel Überwindung kostet, spricht sie öffentlich über ihre schmerzvolle Erfahrung. «Jede betroffene Person reagiert anders auf ein solches Erlebnis – und es ist mir ein Bedürfnis, dass es jede in seinem Tempo und auf seine eigene Weise verarbeiten kann.» Oft würden Vergewaltigungsopfern Fragen gestellt, die sehr schmerzhaft sind: Warum hast du dich nicht gewehrt, warum bist du noch nicht zur Polizei gegangen oder ob sie zuvor mit dem Täter geflirtet habe. Dieser Fokus auf das Opfer sei falsch. Denn manche Betroffenen seien erst nach einigen Tagen, manche nach einigen Wochen und andere erst nach einigen Jahren fähig, über das Erlebte zu sprechen. «Ich möchte die Menschen ermutigen, stattdessen einfach da zu sein für die Opfer, ihnen die Zeit und den Raum für ihren eigenen Weg zu geben.»

In ihrer Anlaufstelle Vergewaltigt.ch will sie das bieten: Hier erhalten andere Betroffene nicht nur ein ein verständnisvolles Ohr im Austauschcafé, sondern auch Begleitung beim Gang ins Spital Vergewaltigung Was tun nach der Tat? oder zur Polizei, Kontakte zu Expertinnen und hilfreiche Informationen. Gemeinsam mit Partnerorganisationen plant sie zudem Präventionskurse an Schulen.

Das alles mache sie für die rund 430’000 Frauen in der Schweiz, die laut einer Umfrage von Amnesty International schon Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen gehabt haben. «Eine riesige Zahl», sagt Cindy Kronenberg. «Aber niemand spricht darüber. Und alle Betroffenen haben das Gefühl, mit ihrer Geschichte allein zu sein.»

Vergewaltigungsopfer wird geehrt

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Vor sechs Jahren wurde Cindy Kronenberg vergewaltigt. Heute hilft sie anderen Opfern. Nun erhielt sie den Prix Courage 2021.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
Sexuelle Selbstbestimmung soll geachtet werden

Kronenberg geht noch einen Schritt weiter: Gemeinsam mit Amnesty International engagiert sie sich für die laufende Revision des Schweizer Sexualstrafrechts . Ziel ist eine rechtliche Verankerung des Grundsatzes, dass sexuelle Handlungen die Zustimmung aller beteiligten Personen voraussetzen und sämtliche Formen von nicht einvernehmlichem Geschlechtsverkehr nicht als «sexueller Übergriff», sondern als «Vergewaltigung» definiert werden.

«Man muss vor dem Geschlechtsverkehr nicht einen komplizierten Vertrag abschliessen, aber es muss klar sein, dass ein Konsens da ist, dass beide das wollen», so Kronenberg. Mit dem neuen Recht müssten nicht mehr die Opfer beweisen, dass sie die sexuellen Handlungen nicht gewollt haben, sondern die Täter müssen nachweisen können Kritik an Vorschlägen des Ständerats «Als wäre eine Vergewaltigung ohne Zwang nicht ‹echt›» , dass die andere Person den Handlungen zugestimmt hat. «Ich hoffe, dass mein Preis dazu beitragen kann, dass wir diesem Ziel einen Schritt näher kommen», sagte Kronenberg an der Verleihung.

Prix-Courage-Jurypräsidentin Susanne Hochuli lobte in ihrer Rede Kronenbergs Einsatz für Vergewaltigungsopfer: «Sie möchte, dass die Öffentlichkeit irgendwann nicht mehr fragt, wie kurz der Rock oder wie hoch der Alkoholpegel des Opfers war. Die Frage muss sein, warum irgendjemand sexuelle Selbstbestimmung einfach missachtet hat. Cindy Kronenberg, wir danken Ihnen von Herzen für Ihren Einsatz, Ihren Mut, Ihre Energie für andere. Sie haben den Prix Courage 2021 wahrlich verdient.»

Aids-Arzt wird mit dem Lifetime Award geehrt

An der Preisverleihung am Freitag wurde auch der Infektiologe Ruedi Lüthy mit dem Prix Courage Lifetime-Award für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Der heute 80-Jährige baute in Simbabwe eine Aidsklinik auf. Jährlich behandeln sie rund 7000 Patientinnen und Patienten und bilden Fachleute aus. 

«Ruedi Lüthys Leben ist im Rückblick von fast unheimlicher Stringenz», sagt Beobachter-Chefredaktor Dominique Strebel in seiner Laudatio. «Auf dem Weg selbst war es Suchen, Probieren, Hinfallen und Aufrappeln.» Doch er habe sich immer wieder an seinen Leitsternen orientiert: Gerechtigkeit, Respekt und Hilfe in Not. «Genau darum sind diese Menschen so inspirierend. Sie zeigen uns unser aller Potenzial», so Strebel. Genau darum gebe es den Prix Courage. «Und genau darum verleiht die Beobachter-Redaktion dem Arzt und Aids-Pionier Ruedi Lüthy den Lifetime Award.»

Kandidatin 4: Cindy Kronenberg

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Gewinnt den Prix Courage 2021: Cindy Kronenberg. Sie wurde vergewaltigt – und hilft nun mit ihrer Anlaufstelle anderen Opfern von Sexualverbrechen.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
Über den Prix Courage

Die Wahl des Beobachter Prix Courage erfolgt jeweils zur Hälfte durch die Leserinnen und Leser sowie eine Jury, die ihre Punkte ohne Kenntnis des Leser-Votings vergibt.

«Mut beginnt mit Haltung und einer inneren Dringlichkeit: Was in der Welt passiert, geht mich etwas an, und ich handle. Sei es, um ein Leben zu retten, Missbräuche öffentlich zu machen oder gegen Gewalt und Diskriminierung aufzustehen», umschreibt Dominique Strebel, Chefredaktor des Beobachters, die Idee für den Prix Courage.

Die Jury des Beobachter Prix Courage setzte sich dieses Jahr wie folgt zusammen:

Jedes Jahr prüft die Redaktion des Beobachters Vorschläge aus dessen Leserschaft, sichtet unzählige Medienmeldungen über mutige Taten und unerschrockenes Handeln zugunsten höherer Ziele. Dutzende Fälle werden nachrecherchiert, Hintergründe geklärt, unabhängige Zeugen befragt, bis feststeht, welche Taten besonders uneigennützig waren und welche Personen mutig gehandelt haben. Dann stellt der Beobachter die seiner Ansicht nach überzeugendsten Fälle vor, lädt die Leserschaft zur Abstimmung ein und unterbreitet die Fälle einer Jury.

Die einzelnen Taten zu werten, ist nicht leicht: «Alle Kandidatinnen und Kandidaten, die der Beobachter nominiert hat, haben Herausragendes geleistet, die Nomination zum Prix Courage ist eine verdiente Auszeichnung dafür», so Dominique Strebel.

Prix Courage 2021 – Die Nominierten im Porträt

 

Das Online-Voting ist beendet!

Die Stimmen der Beobachter-Leserinnen und -Leser sowie jene der Prix-Courage-Jury werden zu je 50 Prozent gewichtet. Bis Sonntag, 17. Oktober 2021, konnten Sie für Ihre Favoritin oder Ihren Favoriten abstimmen.

Die Gewinnerin des diesjährigen Prix Courage wurde am Freitag, 29. Oktober 2021 bekanntgegeben: Cindy Kronenberg

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