Eine Unterschrift und Natallia Hersche wäre frei gewesen, ihre Qualen zu Ende. Doch die heute 53-Jährige weigerte sich. «Ich hatte ja nichts verbrochen. Also musste ich auch nicht begnadigt werden.» 17 Monate war sie in ihrem Heimatland Belarus in Gefangenschaft, 40 Tage davon in Isolationshaft. Das Begnadigungsgesuch unterschrieb sie nie.

Für ihren Mut hat Natallia Hersche nun den Prix Courage 2022 des Beobachters erhalten. Er ist mit 15˙000 Franken dotiert. «Sie, Frau Hersche, sind in einer Autokratie für Meinungsäusserungs- und für Demonstrationsfreiheit eingestanden. Grundrechte, ohne die keine Demokratie funktionieren kann. Ihr Mut ist ansteckend, Ihr Mut gibt anderen Menschen die Kraft, ebenfalls mutig zu sein», begründete Jury-Präsidentin Susanne Hochuli den Entscheid. Die Preisverleihung fand am 28. Oktober im Medienpark in Zürich statt.

Zwei Bretter waren das Bett

Natallia Hersche war eine von fünf Nominierten, die sich im vergangenen Jahr durch aussergewöhnliche Courage ausgezeichnet haben. Die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin war im Herbst 2020 in ihre Heimat gereist und nahm dort an einer Demonstration gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen teil. Sie wurde verhaftet und zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Weil sie sich weigerte, Uniformen für die Polizei zu nähen, steckte man sie in Einzelhaft, in ein Verlies kleiner und enger als jede Abstellkammer. Zwei Bretter dienten als Bett, Matratze oder Bettzeug gab es nicht, nur ein Tuch in der Grösse eines Geschirrtüchleins. Erst nach über eineinhalb Jahren kam sie dank der Hilfe der Schweizer Diplomatie schliesslich frei.

Gedanken an die Leidgenossinnen und Leidgenossen

Noch immer ist Natallia Hersche von der Zeit in Gefangenschaft körperlich und psychisch versehrt. Hätte sie gewusst, was in Belarus passiert, sie wäre sicher nicht in ihre Heimat gereist. «In Gefangenschaft würde ich mich aber wieder genau gleich verhalten.»

Über die Auszeichnung jetzt sei sie sehr dankbar. «Ich danke im Namen der über 1600 politischen Gefangenen in Belarus. Mein Wunsch ist, dass sie bald freikommen.» Ein anderer Wunsch ist: «Dass Belarus sich nicht am Krieg gegen die Ukraine beteiligen würde.»

Demokratiekämpferin erhält Auszeichnung

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Sie hielt an ihren Werten fest und weigerte sich, ein Gnadengesuch zu unterschreiben. Jetzt erhielt Natallia Hersche den Prix Courage.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
Anni Lanz gewinnt Life Time Award

Zweite Preisträgerin des Abends war die Menschenrechts-Aktivistin Anni Lanz. Die 76-Jährige erhielt für ihr Lebenswerk den Prix Courage Life Time Award, der mit 10 000 Franken dotiert ist.

Seit 40 Jahren setzt sich die Baslerin für Geflüchtete ein. Sie nahm zahlreiche Menschen bei sich auf, versteckte sie, wenn nötig, schrieb Rekurse und focht politische Kämpfe – hartnäckig, mit Herz und Verstand, oft gegen die Mehrheit, manchmal auch gegen das Gesetz. «Es ist immer wichtiger, das Leben eines Menschen zu schützen, als ein Gesetz buchstabengetreu einzuhalten», sagt Lanz.

Beobachter Chefredaktor Dominique Strebel nahm Lanz’ Credo in seiner Laudatio auf. «Als Jurist und Staatsbürger kann ich ihr nur zustimmen. Kalte Gesetzesartikel brauchen menschliche Auslegung.» Mit ihrem zivilen Ungehorsam halte sie uns allen den Spiegel vor. «Für solche Denkanstösse, aber vor allem dafür, dass sie stur und kompromisslos für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität kämpft, verleiht der Beobachter Anni Lanz den Lifetime Award des Prix Courage.»

Kandidatin 3: Natallia Hersche

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Die schweizerisch-weissrussische Doppelbürgerin und Demokratieaktivistin Natallia Hersche verbrachte 17 Monaten in weissrussischer Gefangenschaft, weil sie sich weigerte, ein Begnadigungsgesuch zu unterschreiben.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
Über den Prix Courage

Die Wahl des Beobachter Prix Courage erfolgt jeweils zur Hälfte durch die Leserinnen und Leser sowie eine Jury, die ihre Punkte ohne Kenntnis des Leser-Votings vergibt.

«Mut beginnt mit Haltung und einer inneren Dringlichkeit: Was in der Welt passiert, geht mich etwas an, und ich handle. Sei es, um ein Leben zu retten, Missbräuche öffentlich zu machen oder gegen Gewalt und Diskriminierung aufzustehen», umschreibt Dominique Strebel, Chefredaktor des Beobachters, die Idee für den Prix Courage.

Die Jury des Beobachter Prix Courage setzte sich dieses Jahr wie folgt zusammen:

Jedes Jahr prüft die Redaktion des Beobachters Vorschläge aus dessen Leserschaft, sichtet unzählige Medienmeldungen über mutige Taten und unerschrockenes Handeln zugunsten höherer Ziele. Dutzende Fälle werden nachrecherchiert, Hintergründe geklärt, unabhängige Zeugen befragt, bis feststeht, welche Taten besonders uneigennützig waren und welche Personen mutig gehandelt haben. Dann stellt der Beobachter die seiner Ansicht nach überzeugendsten Fälle vor, lädt die Leserschaft zur Abstimmung ein und unterbreitet die Fälle einer Jury.

Die einzelnen Taten zu werten, ist nicht leicht: «Alle Kandidatinnen und Kandidaten, die der Beobachter nominiert hat, haben Herausragendes geleistet, die Nomination zum Prix Courage ist eine verdiente Auszeichnung dafür», so Dominique Strebel.

Prix Courage 2022 – Die Nominierten im Porträt
  • Aileen Lakatos
    ... kämpft gegen sexuelle Übergriffe bei Film und Theater.
     
  • Meinrad Furrer
    ... segnete homosexuelle Paare – gegen den Willen der Kirche.
     
  • Natallia Hersche
    ... ging für die Demokratie in Belarus 17 Monate ins Gefängnis.
     
  • Gabriella Hagger
    ... wurde als Satanistin bezeichnet – und ging an die Öffentlichkeit.
     
  • Daniel Juzi
    ... evakuierte 21 Angehörige eines fliegenden Hilfswerks aus Afghanistan.